Im Alter von 16 Jahren scheint die Welt noch riesengroß und voller Glücksversprechen. Bei Jan ist das anders. Er denkt täglich an den Tod: Vor Jahren wurde er nach einem Unfall durch eine Blutkonserve mit HIV infiziert. Ein stiller introvertierter Junge ist aus ihm geworden, kein sich durchboxendes Powerpaket wie es sich sein Vater wünschte. Eingesperrt im "Kümmerknast" der Mutter schluckt Jan Tabletten so groß wie Bonbons, isst nur Gesundes zur Unterstützung seiner "Körperpolizei" und verschwendet keinen Gedanken an Alkohol und Zigaretten wie Andere in seinem Alter. Seine Tage bestimmen quälendes Warten und die latente Hoffnung, dass die richtigen Präparate noch rechtzeitig erforscht werden, um seine Lebenserwartung zu steigern. Trotzdem hat sich etwas in Jan längst für den Ernstfall gewappnet. Sarkastische Sprüche zieren die Wände seines Zimmer: "Dank der Medizin ist man sich seines Todes nicht mehr sicher", steht da, und: "Alles hat man herausgefunden, nur nicht, wie man lebt." Nicht zufällig fordert Jan sein Schicksal permanent heraus. Mal läuft er mit geschlossenen Augen über eine stark befahrene Kreuzung, mal balanciert er auf Brückengeländern oder er hört unter Wasser einfach auf zu atmen.
Flucht und Hoffnung
Um der bedrückenden familiären Enge zu entfliehen, erträumt sich Jan sein ganz persönliches Paradies. Er lebte gern wie ein Fisch in unendlichem Blau, in einem sicheren dunklen Reich, das er friedlich mit anderen Schuppentieren teilen könnte, die genau so unerreichbar und stumm wie er sind. Immer wieder zieht sich Jan in diese blaue Unterwasserwelt mit ihren schimmernden Leibern zurück, zu denen sich plötzlich ein gelber Fisch gesellt. Dieser sonnige Ton ist Ninas Farbe, die eines Tages auf ihren Inline-Skates den Jungen umrempelt. Das quirlige Mädchen lässt sich von niemandem etwas vormachen. Trotzig und frech fordert Nina vom Leben alles: Eine intakte Familie zum Beispiel, denn ihre Mutter hat sich vor Jahren allein des Klimas wegen nach Kenia abgesetzt. Natürlich fühlt sich Nina von ihr im Stich gelassen, trotzdem hofft sie auf ihre Rückkehr – sei es auch nur, um Vaters neue Freundin zu vergraulen, die Nina nicht ausstehen kann. Mütterlichen Trost und Rat findet das Mädchen bei Angel, einer Sexartikel verkaufenden, älteren Nachbarin. Und dann verliebt sich Nina ausgerechnet in Jan.
Wesensverwandte
Obwohl sie auf der einen Seite nicht unterschiedlicher sein könnten, erkennen Nina und Jan im anderen sofort die eigene Verlorenheit und eine ähnlich pessimistische Weltsicht. Beide sind Einzelgänger, passen nicht ins gängige Schema, und so verwundert es nicht, dass sich auch Nina in Jans Paradies flüchtet. Als sie Jans Zimmerwände in Ultramarin tauchen und ihre Körper gleich mit, verschwinden nicht nur ihre Konturen in dem omnipräsenten Blau, sondern für kurze Minuten auch die Alltagslast. "Wie ficken Fische?", will Nina wissen und ahnt noch nicht, dass deren Fortpflanzungspraxis auch für Jan zutrifft: kein Austausch von Körperflüssigkeiten.
Gefühlschaos
So desolat Regisseurin Almut Getto auch die familiären Verhältnisse ihrer sympathischen Protagonisten zeichnet, Nina und Jan haben immerhin jeweils einen Ansprechpartner. Jans Vertrauter ist der schwerkranke Opa, der als einziger in der Familie seinen Humor bewahrt hat. Jan erzählt ihm von seinen Gefühlen für Nina und den damit verknüpften Problemen: Hat er auch als HIV-Infizierter ein Recht auf Liebe und Sex? Kann er von Nina erhoffen, dass sie ihn nicht zurückstößt? Noch hat Jan ihr seine Krankheit nicht gestanden, denn nichts wäre schrecklicher, als seine erste große Liebe zu verlieren. Doch genau das werden später nicht nur seine Eltern verlangen, sondern auch Ninas Vater aus verständlicher Sorge und Unwissenheit heraus.
Auf Liebe und Tod
Angesichts der jüngsten Ergebnisse der letzten Aids-Konferenz in Berlin ist Aids bei Jugendlichen kein Thema mehr. Um so wichtiger sind Filme wie
Fickende Fische. Wenn Nina nach Jans Offenbarung entsetzt ausruft "Wie, du hast die Schwulenkrankheit?" wird deutlich, dass selbst das aufgeweckte Mädchen noch kaum über Aids nachgedacht hat. Statt dessen skandiert sie verunsichert die üblichen Vorurteile. Und selbst Jan als unmittelbar Betroffener weiß vieles nicht besser: Als sich die beiden körperlich näherkommen und er ins Bettzeug ejakuliert, versucht er in Panik sein Sperma sofort mit einem Handtuch wegzuwischen, das er dann in eine Plastiktüte stopft. Eindringlicher kann man Jans Verzweiflung nicht inszenieren: Er fühlt sich als Zeitbombe und will seiner Liebe nicht den Tod bringen.
Tabuthema Aids
Regisseurin Getto hat ein sicheres Gespür für stimmige Charaktere und Dialoge. Auch die Auswahl von Musik, Kleidung und Ausstattung vermittelt Authentizität. Im Film gibt es keine grell überzogene Dramatik, er setzt sich vielmehr differenziert und sensibel mit dem Tabuthema Aids auseinander. Getto verdeutlicht, dass besonders HIV-infizierten Jugendlichen der soziale Rückhalt fehlt: Abgesehen von mangelnder Lebenserfahrung existiert für sie kein Netzwerk wie etwa für HIV-infizierte Homosexuelle. Doch aller Anschaulichkeit zum Trotz ist
Fickende Fische kein dröger Aufklärungsfilm geworden und daher wird er sein (jugendliches) Zielpublikum sicher finden.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp, 01.08.2002