Nicolas Philibert ist einer der sensibelsten und ausdrucksstärksten zeitgenössischen Filmemacher Frankreichs. Seine Dokumentarfilme besitzen die Eleganz und die emotionale Wucht von großen Spielfilmen.
Sein und Haben ist sein bislang stärkstes Werk. Der Film schildert fast ein ganzes Schuljahr in einer winzigen Ein-Klassen-Schule in einem abgelegenen Bauerndorf mitten in der Auvergne. Bis zur Uraufführung des Films im Rahmen der Filmfestspiele in Cannes 2002 schien Philibert ein gut gehütetes französisches Geheimnis zu sein. Weitgehend unbekannt war, dass er nach Abschluss eines Philosophiestudiums schon seit 1978 Filme machte und mit renommierten Regisseuren wie Alain Tanner und Claude Goretta zusammengearbeitet hat.
Perfekt inszenierter Glücksfall
Interessante und unterhaltsame Personen und Persönlichkeiten machen einen Film zu einem großen Film. Für Dokumentarfilme, in denen das Geschehen in der Regel keinem dramatisch zugespitzten Drehbuch folgt, gilt diese einfache Regel in verstärktem Maße. Dass nun Nicolas Philibert überhaupt begann, gerade im Klassenzimmer des Lehrers George Lopez zu filmen, ist insofern entweder großem Glück oder superber Planung zuzuschreiben. Fast ohne es zu merken, lernt man von und mit den Personen eine Menge über die Schule und das Leben – und am Ende des Films möchte man diese Erfahrung nicht mehr missen.
Schule des Lebens im doppelten Sinn
George Lopez ist so etwas wie ein 'Lehrergott', ein Mann, dem von allen seinen Schülern Respekt und Bewunderung entgegengebracht wird. Er lebt in einer kleinen Wohnung im ersten Stock des Schulgebäudes. Jeden Morgen bereitet er sorgfältig das Klassenzimmer vor, begrüßt seine Schüler einzeln und beginnt einen langen Unterrichtstag, an dem er seine Zeit ständig zwischen drei Altersgruppen aufzuteilen hat. Jeden Abend muss aufgeräumt und der nächste Tag vorbereitet werden. Schule ist an sechs Tagen pro Woche. Am siebten Tag gibt George Lopez Nachhilfeunterricht. Wie sehr seine Tätigkeit auch seine Berufung ist, beginnt man zu verstehen, als er von seiner Kindheit erzählt und von seinem Traum, Lehrer zu werden. Und wenn er am Ende des Films 'seine' Kinder in die Ferien und in das weitere Leben entlässt, das mit Sicherheit ganz anders sein wird, als seine "Schule des Lebens", kann er seine Rührung und seine Tränen kaum verbergen.
Erziehung zur Gemeinschaft
Mit gütiger Strenge und einem auf einfachste und positivste Weise ganzheitlichen Verständnis seiner Rolle und seiner Verantwortung scheint es George Lopez zu gelingen, die Kinder zu selbstbewussten und auch in der Gemeinschaft selbstständigen Menschen zu erziehen. Wie er ruhig und bedacht zwei der älteren Jungen anleitet, die wahren Gründe ihres Streits zu erkennen und gemeinsam ihr Verhalten zu ändern ist ein wunderbares Beispiel für unkomplizierte und praxisgerechte Anwendung von 'Konfliktlösungsstrategien', von denen so mancher Personalchef noch etwas lernen könnte. Für die herausragende Qualität von Philiberts Films spricht in diesem Zusammenhang, dass der Regisseur unaufdringliche Erläuterungen zu den Motivationen der Streithähne – auf der einen Seite familiärer 'Ansporn' zum Hausaufgabenmachen durch Ohrfeigen, auf der anderen Seite Gefühlswirrwarr wegen eines schwerkranken Vaters – nicht vorenthält. Damit verleiht er auch dieser Sequenz des Films eine weit reichende humane Bedeutung.
Kindliche Entdeckungsfreuden
Die tiefe Liebe des Lehrers zu seiner Arbeit und seine bewundernswerte, schier unerschöpfliche Geduld und Energie durchleuchten den ganzen Film geradezu magisch. Besonders deutlich wird das in seinem Umgang mit dem liebenswerten Störenfried Jojo. Man mag sich noch so fest vornehmen, nicht auf den Charme des sechsjährigen Bengels hereinzufallen, aber man kommt einfach nicht an diesem kleinen Wirbelwind vorbei, der in einem ansonsten stillen Klassenzimmer permanent auf sich aufmerksam macht. Und Jojos Entdeckung der Mysterien eines Kopiergeräts gehört zu den schönsten filmischen Beobachtungen von Kindern überhaupt …
Ein Beispiel, das Schule machen sollte
Philibert gelingt es, die tiefere Bedeutung jeder einzelnen Interaktion zwischen den Kindern und ihrem Erzieher herauszukristallisieren. Er zeigt unaufdringlich und höchst wirkungsvoll, wie alle auf ihre ureigenste Weise mit den Veränderungen im Leben umgehen und fertig werden (müssen).
Sein und Haben ist ein zärtlicher, kluger, humorvoll-poetischer, herzergreifend schöner und im allerbesten Sinne erhebender Film. Er sei allen Menschen empfohlen, die jemals einen Fuß in ein Klassenzimmer setzten.
Autor/in: Thomas Gerstenmeyer, 01.01.2003