Hintergrund
Der Völkermord in Ruanda
Der zentralafrikanische Staat Ruanda ist mit knapp acht Millionen Einwohnern/innen das am dichtesten besiedelte Land in Afrika und etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Die überwiegende Mehrzahl gehören dem Stamm der Hutu an (ca. 84 Prozent), ca. 15 Prozent sind Tutsi und ein Prozent Twa/Pygmäen. Über 80 Prozent der Bevölkerung sind Christen, darunter mehr als doppelt so viele römisch-katholisch wie protestantisch. 1994 ereignete sich dort der wohl schlimmste und "schnellste" Völkermord der Neuzeit. Er forderte binnen 100 Tagen etwa eine Million Menschenleben. Von langer Hand systematisch geplant und von der Weltgemeinschaft weit gehend ignoriert, schlachteten militante Hutu damals nicht nur alle echten und vermeintlichen Tutsi im Land ab, derer sie habhaft werden konnten, sondern auch alle opponierenden und gemäßigten Kräfte aus der eigenen Ethnie, die sich gegen einen reinen Hutu-Staat wandten und dem Massenmord an ihren Tutsi-Nachbarn passiv oder gar aktiv widersetzten. Wie aber konnte es zu diesem entsetzlichen Massaker kommen?
Historische Wurzeln des Konflikts
Die Journalistin Linda Melvern ist auch Gerichtssachverständige beim Internationalen Strafgerichtshof zum Völkermord in Ruanda. Sie hat keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise gefunden, dass die Minderheit der körperlich meistens etwas größeren Tutsi im Lande wirklich aus einer anderen Gegend von Afrika stamme und erst später in die Gebiete des heutigen Ruanda eingewandert sei. Diese These von den Tutsi (in der Landessprache: "reich an Vieh") als Eindringlingen diente den Hutu ("Diener") später als Legitimation für den Völkermord. Sie scheint aber eher eine Erfindung der europäischen Kolonialherren und des britischen Forschers John Hanning Speke zu sein, der in einer Veröffentlichung 1902 behauptete, die Kultur in diesem Teil Afrikas sei jener auf dem übrigen Kontinent so überlegen, dass sie ihren Ursprung irgendwo anders haben müsse. Als die europäischen Supermächte auf der Berliner Afrikakonferenz 1884 den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten, fiel Ruanda zunächst an Deutschland. Damals bestand die monarchistisch geprägte politische Elite aus Tutsi, die den Ton angaben und sich dabei auf eine breite Verwaltung stützten, die von Hutu getragen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Ruanda und der Nachbarstaat Urundi (Burundi) als Völkerbundsmandat von Belgien verwaltet, denn man war der Überzeugung, die Schwarzen könnten sich noch nicht selbst regieren. 1933 ließ die belgische Kolonialverwaltung eine Volkszählung durchführen, bei der belgische Bürokraten die gesamte Bevölkerung nach rein äußerlichen Merkmalen willkürlich als Tutsi, Hutu oder Twa klassifizierten und diese ethnische Zugehörigkeit im Ausweis vermerkten. Zugleich wurde die Mehrheit der Hutu im alltäglichen Leben diskriminiert und in der Regel auch von westlicher Schulbildung ausgeschlossen. Die künstliche Spaltung der Gesellschaft war damit vollzogen.
Machtkämpfe und gegenseitiger Massenmord
Vor dem Hintergrund der sozialen Ungleichheit kam es über die Jahrzehnte hinweg immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hutu und Tutsi, aber auch die Strategie der Kolonialmacht änderte sich. Wurden zunächst die Tutsi favorisiert und in Führungspositionen gebracht, sollten die Belgier nun unter dem Druck der Vereinten Nationen zur Emanzipation der diskriminierten Hutu beitragen. 1959 kam es zu einer massenhaften Absetzung von Tutsi-Häuptlingen, in deren Verlauf mehrere Tausend Menschen getötet wurden. Als sich die Belgier 1961/62 aus Ruanda und Burundi, wo die Tutsi an der Macht blieben, zurückzogen und beide Länder in die Unabhängigkeit entließen, verhalfen sie in Ruanda dem Hutu-Präsidenten Kayibanda an die Macht. Er wird als "Vater des Hutu-Nationalismus" bezeichnet und erklärte die Tutsi, die bereits damals offiziell als "Kakerlaken" bezeichnet wurden, zu "ewigen Feinden". Tutsi-Exilanten versuchten, ihn 1963 von Burundi aus zu stürzen. In Folge der misslungenen Invasion startete das Kayibanda-Regime eine intensive Kampagne zur Ermordung der Tutsi im eigenen Land und drohte mit der gesamten Auslöschung der Tutsi-Rasse, falls sie jemals wieder versuchen sollte, an die Macht zu kommen. Tausende Tutsi flohen deshalb in die Nachbarstaaten Burundi und Uganda, lebten dort vielfach in Flüchtlingslagern und bildeten den Kern für die Ruandan Patriotic Front (RPF), die in den Folgejahren mehrmals in Ruanda einfiel. Sie bedeutete für die dortigen Hutu-Machthaber auch unter ihrem zweiten Präsidenten Habyarimana, der 1973 durch einen Militärputsch an die Macht kam, eine ständige Bedrohung, zumal die Tutsi in Burundi 1972 ihrerseits systematisch etwa 200.000 Hutu ermordet hatten, was wiederum zu Repressalien gegen die in Ruanda verbliebenen Tutsi führte.
Propaganda für den Genozid
In seiner 20-jährigen Amtszeit festigte Präsident Habyarimana die Spaltung zwischen Hutu und Tutsi und übertrug große Teile der Macht an seine Verwandten im Norden des Landes, wofür er auch Kritik in den eigenen Reihen erntete. Fast schien es, als könne die Spirale der Gewalt noch gestoppt werden, als es nach einer erneut abgewehrten Invasion von Exilruandern aus Uganda am 29. März 1991 zu einem Waffenstillstand zwischen den ruandischen Hutu-Militärs und der RPF kam. Inoffiziell nutzte die Regierung aber die Angst der Hutu-Bevölkerung vor den RPF-Streitkräften. Sie fingierte einen Scheinangriff auf die Hauptstadt Kigali, den sie der RPF unterschob, und verdächtigte alle Tutsi in Ruanda, mit der RPF zu kollaborieren und es nur auf den Tod der Hutu abgesehen zu haben. Zugleich wurden über eine von der Regierung finanzierte Zeitschrift und einen Radiosender brutale Hetzkampagnen gegen die Tutsi verbreitet. In diesem politischen Klima, das Regierung, Militär und Bevölkerung in Extremisten und Gemäßigte spaltete, kam es häufig auch zu Übergriffen gegen einzelne Tutsi. Die konkreten Pläne für den Massenmord an ihnen, der vermeintlich alle Probleme der Hutu lösen sollte, wurden gegen Ende 1990 von militanten Teilen der Regierung und einigen Armeeoffizieren gefasst. Da diese Pläne allein mit den Polizei- und Armeeangehörigen nicht zu realisieren waren, kam es ab 1991 zur Aufstellung einer zivilen Schutztruppe, den Interahamwe-Jugendmilizen, zur Installation eines geheimen Kommunikationsnetzes zwischen den Extremisten und zur Anlage riesiger Waffenlager. Der Großteil dieser Waffenkäufe wurde in Paris, das sogar Militärberater nach Ruanda geschickt hatte, und Kairo unter Beteiligung dortiger Politiker und Firmen abgewickelt, die das Hutu-Regime von Präsident Habyarimana unterstützten. China lieferte mehrere hunderttausend Macheten, die während des Genozids an die Hutu-Bevölkerung ausgegeben wurden, um die Tutsi damit abzuschlachten. Während Ruanda mit internationaler Unterstützung also immer weiter aufrüstete, wurde unter Vermittlung der Vereinten Nationen am 4. August 1993 das Friedensabkommen von Arusha unterzeichnet, das die Beendigung des Bürgerkriegs und eine Beteilung der RPF und der Tutsi an einer gemeinsamen Regierung mit den Hutu in Ruanda vorsah.
Das UN-Mandat und der Sicherheitsrat
Eine vom Weltsicherheitsrat nur halbherzig genehmigte und schlecht geplante UN-Friedenstruppe von 2500 Soldaten (UNAMIR) unter der Leitung des kanadischen Generalmajors Roméo Dallaire sollte die Umsetzung dieses Friedensplans überwachen, der von der Regierung jedoch immer wieder verzögert und von militanten Hutu boykottiert wurde. Das UN-Mandat stand unter einem denkbar ungünstigen Stern. Die Truppe kam viel später als vorgesehen nach Ruanda, war sich über die wirkliche Lage im Land zunächst vollkommen im Unklaren, nur äußerst mangelhaft ausgerüstet und besaß kaum Handlungsspielraum, denn sie durfte ihr reines Beobachtungsmandat nicht verletzen. In Ermangelung eines dringend angeforderten eigenen Senders konnte sie nicht einmal der Anti-Tutsi-Propaganda des neuen Radios Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) etwas entgegensetzen, der nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Arusha auf Sendung gegangen war und die Bevölkerung aufwiegelte. Der von Hutu-Extremisten generalstabsmäßig geplante Genozid begann am Abend des 6. April 1994, als das Präsidentenflugzeug mit Habyarimana und dem Präsidenten von Burundi beim Landeanflug auf Kigali unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen abgeschossen wurde. Zunächst beschuldigte man dafür die RPF-Rebellen, dann sogar die Belgier, vermutlich waren es aber Hutu-Extremisten selbst, die das Friedensabkommen um jeden Preis verhindern wollten. Macht- und tatenlos musste die Friedenstruppe mit ansehen, wie noch in derselben Nacht Tausende von Tutsi und gemäßigten Hutu ermordet wurden. Einige Tage später schickten ausländische Regierungen Truppen, um die Ausländer/innen in Ruanda zu evakuieren, nicht aber um den Einheimischen zu helfen. Zudem beschloss der UN-Sicherheitsrat am 21. April 1994 einstimmig, die meisten der verbliebenen UNAMIR-Truppen abzuziehen. Der Journalistin Linda Melvern zufolge hinterließ dies bei der Hutu-Übergangsregierung unter Premierminister Jean Kambanda den Eindruck, dass sie das Morden ungehindert fortsetzen könnte, ohne mit einer Bestrafung durch die Weltöffentlichkeit rechnen zu müssen. Melvern erklärt die krassen Fehlentscheidungen des Sicherheitsrats und der Clinton-Regierung in Washington, die lange darüber stritten, ob es sich überhaupt um einen Genozid handele und schließlich doch nichts unternahm, damit, dass zum einen Dallaires verzweifelte und sehr detaillierte Hilferufe nicht alle Mitglieder des Sicherheitsrats erreicht hätten. Zum anderen wollte man nach dem Desaster der UN-Mission in Somalia ein zweites Mogadischu vermeiden, und zusätzlich lenkte die parallel stattfindende UN-Mission der KFOR-Truppen in Jugoslawien sowohl die Mittel wie die Aufmerksamkeit weg von diesem fernen Land. Das Morden in Ruanda nahm erst Mitte Juli 1994 ein Ende, als die Truppen der Tutsi-RPF Kigali einnahmen. Etwa eine Million Menschen waren zu diesem Zeitpunkt bereits tot.
Das neue Machtgefüge und die Bestrafung der Schuldigen
Noch bevor die RPF am 20. Juli 1994 einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen hatte, kam es zu einem Massenexodus der Hutu vor allem in das Nachbarland Zaire, wohin sich allein 1,8 Mio. Menschen flüchteten, um den Vergeltungsaktionen der Tutsi zu entgehen. Das Elend in den Flüchtlingslagern führte zu einem groß angelegten internationalen Hilfseinsatz unter Leitung des UN-Flüchtlingskommissariats, die in Ruanda Verbliebenen hingegen waren weit gehend sich selbst überlassen. Im allgemeinen Chaos der endlosen Flüchtlingsströme konnte sich zunächst auch die gesamte Führungsspitze der Übergangsregierung, die für den Genozid verantwortlich zeichnete, ins Ausland absetzen. 66 Personen wurden später in über 20 Ländern festgenommen, nachdem der UN-Sicherheitsrat am 8. November 1994 die Gründung eines Internationalen Gerichtshofs für Ruanda beschlossen hatte. Einige der Täter sind zumindest bis 2004 weiterhin untergetaucht, darunter Félicien Kabuga, der das Hassradio RTLM maßgeblich finanziert hatte. In den Lagern formierten sich erneut gewalttätige Hutu-Gruppen und töteten allein im ersten Monat nach Errichtung der Lager etwa 4000 Menschen, darunter auch solche, die einfach nur nach Ruanda zurückkehren wollten. Unterdessen wurde in Ruanda Pasteur Bizimungu zum Präsidenten der neuen Regierung Nationaler Einheit und der militärische Führer der RPF, Generalmajor Paul Kagame, zum neuen Verteidigungsminister (seit 22.4.2000 Präsident und seit September 2003 in demokratischen Wahlen bestätigter Präsident) ernannt. Alle Parteien sind nun an der Regierungsbildung beteiligt, die Kennzeichnungspflicht für die Ethnien wurde abgeschafft. Als schwierig erweist es sich, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nach dem Genozid waren zunächst über 100000 mutmaßliche Täter und Denunzierte in Gefängnissen eingesperrt, viele von ihnen starben durch Wundbrand oder erstickten in den überfüllten Zellen. Um die Flut der Prozesse wenigstens ansatzweise zu bewältigen, griff man schließlich auf das traditionelle Gerichtsverfahren "gacaca" zurück, das aber nicht für die Hauptangeklagten gilt. Unbescholtene Bürger/innen in jeder Kommune entscheiden dann öffentlich darüber, welche Strafe den Angeklagten zuteil wird, und sie fällt umso niedriger aus, je mehr diese von ihren Taten gestehen. Holger Twele Literaturhinweise: Dallaire, Roméo: Handschlag mit dem Teufel, Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt am Main 2004 Grill, Bartholomäus: Ruanda. Der Rest ist Verdrängen, in: Die Zeit vom 1.4.2004, Nr.15 Melvern, Linda: Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt, Kreuzlingen/München 2004
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006