Hintergrund
Kindersoldaten
Im November 2004 veröffentlichte eine amerikanische Fachzeitschrift eine Untersuchung von US-Forschern/innen über die Zahl der getöteten Zivilisten/innen im Irakkrieg. Die Forschungsgruppe hatte in 30 unterschiedlichen Regionen in rund 1.000 Haushalten nach toten oder vermissten Angehörigen gefragt. Nach ihren Berechnungen sind im Irak seit Beginn der Invasion im März 2003 neben 1.081 gefallenen Soldaten/innen der US-Armee etwa 100.000 Zivilisten/innen umgekommen – eine Zahl, die extrem hoch erscheint. Bisherige Schätzungen waren von 10.000 bis höchstens 30.000 Toten ausgegangen. Die meisten der zivilen Opfer seien Frauen und Kinder, 95 Prozent der geschätzten 100.000 Opfer seien bei Bomben- oder Hubschrauberangriffen der Koalitionstruppen umgekommen, die restlichen durch Terroranschläge.
Szene aus dem Film "Schildkröten können fliegen"
Krieg gegen die Zivilbevölkerung
Moderne Kriege treffen vor allem Frauen und Kinder. Walter Lichem, im Wiener Außenministerium zuständig für Internationale Organisationen, hat nachgerechnet: Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur fünf Prozent der Kriegsopfer unschuldige Zivilpersonen, hat sich ihr Anteil gegen Ende des Jahrhunderts auf 95 Prozent erhöht, davon wiederum 80 Prozent Kinder und Frauen. Der Grund: von über 100 militärischen und gewalttätigen Auseinandersetzungen im Laufe der 1990er-Jahre waren nur 13 Kämpfe zwischen verschiedenen Staaten, alle anderen spielten sich im eigenen Land ab. Walter Lichem: "Mehr Menschen sterben heute unter der Gewalt ihrer Landsleute oder gar ihrer eigenen Regierungen als durch Krieg eines ausländischen Staates." Auch die Invasion im Irak war eigentlich kein Krieg zwischen Staaten, sondern offiziell eine international geführte Operation unter Führung der USA zur Befreiung der irakischen Bevölkerung vom Joch eines tyrannischen Machthabers.
Terror gegen Frauen und Kinder
Kinder und Frauen sind aber nicht nur zufällige Opfer, bürokratisch so genannte Kollateralschäden, die nun einmal in der Hitze des Gefechts nicht zu vermeiden sind. Die "Warlords" in allen Bürgerkriegen dieser Welt wissen, dass die Chancen auf einen Sieg wachsen, wenn die Zivilbevölkerung des Kriegsgegners demoralisiert und entmutigt wird. Verbrannte Dörfer, Vertreibungen, Vergewaltigungen und Massaker bis hin zum Völkermord sind bewusst eingesetzte Terrorinstrumente. Die Kinder, die überleben, werden in Militärlagern zu Kämpfenden gedrillt. Sie sind gut im Kampf, denn sie sind jung und furchtlos, sie suchen nach Anerkennung und sie parieren aufs Wort.
Szene aus dem Film "Innocent Voices"
Aus Opfern werden Täter/innen
Über 300.000 Jungen und Mädchen unter 16 Jahren kämpfen im Jahr 2005 nach Schätzungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) in rund 40 Ländern der Welt für die selbst ernannten Kriegsherren, ob auf Regierungs- oder Rebellenseite. In Lateinamerika und im Nahen Osten gehen die Zahlen zurück, in Afrika und Asien dagegen steigen sie weiter. Nach UNICEF-Berichten sind allein in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara mehr als 120.000 Kinder an kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt. In Myanmar (dem früheren Burma) sollen 70.000 Kinder ab zehn Jahren als menschliche Schutzschilde und Minensucher/innen im Einsatz sein. Etwa zwei Millionen Kinder wurden nach Berechnungen von UNICEF während der vergangenen zehn Jahre in Kriegen getötet. Wie viele durch Kriegserlebnisse traumatisiert, psychisch geschädigt, seelisch entwurzelt wurden, lässt sich kaum schätzen. Zwölf Millionen verloren ihr Zuhause, fünf Millionen leben in Flüchtlingslagern. Gerade diese Kinder und Jugendlichen reagieren auf ihre Situation mit Hass und Gewalt, sie wollen sich oder ihre Angehörigen für erlittenes Unrecht rächen. Oder sie wollen einfach nur ihr nacktes Überleben sichern. Als Soldaten bekommen sie Nahrung, Kleidung, eine Waffe in die Hand und ein Dach über dem Kopf.
Anspruch und Wirklichkeit
Auf dem Papier haben die meisten UN-Mitgliedsstaaten das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet und damit den Einsatz von Kindersoldaten geächtet. Doch was nützt das den 14.000 Jugendlichen, die in Kolumbien in paramilitärische Einheiten gepresst wurden? Oder den Zivilopfern im Sudan, den Kindern und Frauen, die dort systematisch von marodierenden Banden tyrannisiert, vergewaltigt und ermordet werden? Wirtschaftliche Interessen gehen vor – beispielsweise wenn es um den Zugriff auf Ölvorräte im betreffenden Land geht.
Zurück zur Normalität
Erfahrungen mit demobilisierten Kindersoldaten haben internationale Hilfsorganisationen in Afghanistan, Angola und Sierra Leone gesammelt. Projekte für rund 40.000 jugendliche Kriegsveteranen werden unter anderem von Misereor unterstützt. In Liberia zum Beispiel sitzen Opfer wie Täter in der gleichen Schulklasse. Sie haben die Chance, einen Beruf als Kfz-Mechaniker oder Tischler zu erlernen. Und sie erfahren vielleicht zum ersten Mal, dass sich Autos nicht nur anzünden, sondern auch reparieren lassen.
www.kindersoldaten.de www.unicef.org
Autor/in: Volker Thomas, 01.05.2005