Hintergrund
Die schulische Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen
"Dem behinderten Daniel aus Berching ist Besuch der Grundschule verwehrt. Aussichtsloser Kampf mit der Bürokratie. Seit drei Jahren bemühen sich die Eltern vergeblich um die Integration ihres Sohnes. Klage in Karlsruhe erwogen." So titelte die Süddeutsche Zeitung am 3. Juli 1997 und bringt den Kampf um die schulische Integration geistig und körperlich behinderter Kinder auf den Punkt. Doch hinter dieser Kontroverse über den Sinn von Integration– also dem gemeinsamen Lernen von Schülern/innen mit und ohne Behinderung in einer Klasse – steht längst keine strittige Forschungslage mehr. Didaktische, pädagogische, vergleichende, politische und finanzielle Überlegungen sprechen für Integration und gegen Separierung. Der aktuelle Forschungsstand belegt eindeutig, dass die Integrationsfrage in den Untersuchungen der letzten Jahrzehnte ausschließlich "pro Integration" entschieden wurde.
Historische Entwicklung
Als Ende der 1960er-Jahre die Zahl der Förderschüler/innen in der BRD stark angestiegen war, empfahl die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1973 "soviel Integration wie möglich, soviel Separation wie nötig." Generell wurde die Integration in den 1970ern von den Eltern – und meist auch gegen bestehende Schulgesetze und -bürokratien – durchgesetzt. Dabei kam es zu einer veränderten Praxis unabhängig von wissenschaftlicher Theoriebildung. 1994 wurde das Grundgesetz durch den Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" ergänzt und die Kultusministerkonferenz gab eine Empfehlung für die Integration ab, der zufolge die Erfüllung des sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht an Sonderschulen gebunden ist, ihm "kann auch in allgemeinen Schulen vermehrt entsprochen werden".
Didaktische Aspekte
Das traditionelle sonderpädagogische Denken ging davon aus, dass homogene Lerngruppen ideal seien, weil somit der Schwierigkeitsgrad der Lernanforderungen an das Niveau der Gruppe angepasst werden könne. Die Integrationspädagogik bricht mit dieser Vorstellung und einem lehrerzentrierten Frontalunterricht. Sie setzt im Lernprozess stattdessen auf neue Formen wie Kleingruppen-, Partner- und Einzelarbeit. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass Lernprozesse individuell ablaufen und somit auch unterschiedlichen Geschwindigkeiten folgen. In einem integrativen Unterricht ermöglichen die Lehrer/innen den Schülern/innen, je nach Entwicklungs- und Lernmöglichkeit unterschiedliche Ziele auf verschiedene Art und Weise zu erreichen. So integrierte beispielsweise ein Schulversuch in Nordrhein-Westfalen vier Kinder mit Förderbedarf, davon zwei geistig behinderte Kinder, in eine Regelklasse, in der die Grundschullehrerin durch zwei zeitweise anwesende Sonderschul-Lehrerinnen und einen Zivildienstleistenden unterstützt wurde. Das Prinzip der individuellen und binnendifferenzierten Förderung lässt sich an zwei Beispielen aus der Unterrichtspraxis illustrieren: Die nichtbehinderten Kinder besprechen einige Fotos und notieren anschließend Sätze dazu. Gleichzeitig führt eine Sonderpädagogin mit den geistig behinderten Kindern Artikulationsübungen zu den Fotos durch. Anschließend lesen alle Schüler/innen Gedichte. Der geistig behinderte Junge liest langsamer, wird unterstützt und muss nur einige farblich hervorgehobene Teile der Gedichte lesen.
Pädagogische Aspekte
Werden die behinderten Kinder in die Regelklasse aber wirklich eingebunden und wie wirkte sich die Integration auf die Schulleistungen aus? Befragungen ergaben, dass 75 Prozent der behinderten Schüler/innen beliebt und akzeptiert waren – im Vergleich zu 85 Prozent der nichtbehinderten Schüler/innen. Gezeigt wurde ebenfalls, dass sich die sozialen Kontakte auch auf den außerschulischen Bereich ausweiteten. Lernstarke Schüler/innen erbrachten in heterogenen vergleichbare Leistungen wie in homogenen Gruppen. Lernschwache Schüler/innen profitierten deutlich von der Anwesenheit lernstärkerer Schüler/innen und steigerten ihre Leistung.
Vergleichende Betrachtung
Sowohl im Vergleich zwischen den europäischen Staaten als auch mit den Bundesländern zeigen sich für Jutta Schöler von der TU Berlin erhebliche Unterschiede beim Ausmaß der Integration an Schulen. Während die Bundesrepublik mit einer Integrationsquote von fünf Prozent im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern gehört – d. h. nur fünf Prozent der behinderten Schüler/innen besuchen eine Regelschule – liegen die Anteile in anderen Ländern weit höher: in Österreich bei 25 Prozent, in Großbritannien bei 30, Schweden bei 36 und Portugal bereits bei 70 Prozent. In Italien und Norwegen wurden Sonderschulen in den 1970ern und 80ern sogar vollständig geschlossen. In der Bundesrepublik entscheidet die Politik der Bundesländer über das Ausmaß an Integration. Während sich in einigen Bundesländern Integration etabliert hat (Brandenburg 9, Schleswig-Holstein 20 und Berlin 23 Prozent), gehen die Integrationsbemühungen einer Studie von Peter Heyer zufolge in Sachsen, Baden-Württemberg und Bayern nicht über vereinzelte Schulversuche hinaus.
Politische Dimension
Urs Häberlin, Professor an der Universität Freiburg, Schweiz, behauptet, dass hinter diesen Unterschieden generelle politische Auseinandersetzungen stehen. Integrationsklassen mit entsprechender Unterrichtsorganisation und Didaktik bedeuten einen erheblichen Eingriff in die momentane Schulpolitik. Für konservative Bildungspolitiker/innen steht Fachleistung im Konflikt mit Solidarität. Sie schreiben der Entwicklung von Leistungsfähigkeit als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum oberste Priorität zu und nehmen damit die vermeintlich notwendige Ausgrenzung jener, die weniger leistungsstark sind, in Kauf.
Finanzielle Erwägungen
Da Integration pädagogisch kaum mehr umstritten ist, führen Politiker/innen oft finanzielle Gegenargumente auf, etwa nach dem Motto: "Wir wollen Integration – aber kosten darf sie nichts." Nach Aussagen der Vertreter/innen von Sonderschulen sind die Personalkosten für Integration vier bis fünf Mal höher als für ein separiertes System. Doch anstatt verengt auf die Kosten für das Personal zu schauen, empfiehlt der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz eine Gesamtrechnung in einem Sieben-Ebenen-Modell. Kalkuliert man neben den Ausgaben für das Personal die Kosten für den Transport, den Gebäudebetrieb, die Schulzeit, die Schulform, die Kooperationen und die gesamtgesellschaftlichen Folgen, dann ist Integration nicht teurer als Separation. Sobald Sonderschulen geschlossen werden, sinken auch die Kosten für die Integration erheblich.
Vielfalt im Unterricht
Die Menschen unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf ihre Behinderung. Die im angelsächsischen Kontext längst etablierte Debatte um Vielfalt (diversity) erreicht zunehmend die Bundesrepublik. Damit geraten tatsächliche oder zugeschriebene Differenzen im Hinblick auf Ethnizität, soziale Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung und Alter verstärkt in das Zentrum gesellschaftlicher Diskussionen. Häufig stellt sich die Frage nach Vorzügen und Grenzen von Vielfalt im Klassenzimmer. Vor allem konservative Politiker/innen etikettieren Schüler/innen mit Migrationshintergrund wegen vermeintlicher Sprachdefizite oder kultureller Verschiedenheit gerne als schwer integrierbar. Einer solchen Behauptung müssen mindestens zwei Argumente entgegen gesetzt werden. Zum einen schreiben die Mehrheitsgruppen den jeweiligen Minderheiten die Unterschiedlichkeit oft unzutreffend zu, wobei Vorurteile und Stereotype Grundlage dieser Etikettierungsprozesse sind. Beispielsweise wird Migranten/innen aus der Türkei eine geringere Wertschätzung des demokratischen Systems als den Bürgern/innen ohne Migrationshintergrund unterstellt, obwohl Studien das Gegenteil beweisen. Zum anderen lassen sich die Ausführungen zur Integrationspädagogik auf Vielfalt in Schulklassen generell übertragen. Heterogenität ist bei angemessenen Unterrichtsformen kein Problem für das Lernen aller Schüler/innen. Vielmehr kann ihre Verschiedenheit positive Lernprozesse auslösen, da viele unterschiedliche Verhaltensmodelle vorliegen, die Begegnung mit Differenz das eigene Denken aus eingefahrenen Bahnen löst und damit kritische Reflexionsprozesse ermöglicht.
Literaturhinweise Eberwein, Hans/Knauer, Sabine: Integrationspädagogik. Beltz Verlag 2002 Heimlich, Ulrich: Integrative Pädagogik. Eine Einführung, Kohlhammer 2003 Preuss-Lausitz, Ulf/Maikowski, Rainer (Hrsg.):Integrationspädagogik in der Sekundarstufe. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Jugendlicher, Beltz Verlag 1998 Riedel, Klaus: Was kann Didaktik zur Integration von Behinderten und Nichtbehinderten in der Regelschule beitragen?, in: Eberwein, Hans (Hrsg.): Einführung in die Integrationspädagogik. Deutscher Studienverlag 1996 Zeitschrift "Gemeinsam leben". Zeitschrift für integrative Erziehung. Luechterhand Verlag
www.gemeinsam-leben-lernen.de Verein Gemeinsam Leben Lernen e.V. (zur Förderung integrativer Bemühungen) Website mit zahlreichen Infos, u. a. zur rechtlichen Situation in den Bundesländern, Linksammlung
www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de Bundesarbeitsgemeinschaft "Gemeinsam Leben – gemeinsam lernen" Elternorganisation, die sich für gemeinsames Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung einsetzt
www.ewi.tu-berlin.de/index.php?section=62 Arbeitsstelle "Integrative Förderung schulschwacher/behinderter Kinder und Jugendlicher", TU Berlin. Die Arbeitsstelle hat u. a. einen Medienkatalog "Integration von Menschen mit Behinderungen" (Spezialverzeichnis deutschsprachiger Videos) entwickelt
http://bidok.uibk.ac.at Digitale Volltextbibliothek zum Thema "Behindertenpädagogik/Integrative Pädagogik" des Instituts für Erziehungswissenschaften an der Uni Innsbruck
Autor/in: Michael Ruf (Erziehungswissenschaftler), 01.09.2005