Hintergrund
Das Familiennetz als Konstante hinduistischer Identität
In einer engen Gasse im Süden Kalkuttas lebt meine alleinstehende 95-jährige Großtante Nilima Das Gupta. "Ich habe jetzt ein Handy, aber das Leben ist beschwerlich ohne Kinder. Niemand fährt mich zum Arzt", klagt sie. "Warum hast Du eigentlich nicht wie deine Schwestern geheiratet?", frage ich. "Ich wollte frei sein und meine Karriere als klassische Sängerin nicht aufs Spiel setzten."
Traditionelles Familienbild
Beruflichen Ambitionen statt der gesellschaftlichen Bestimmung zu folgen, war für Frauen aus Nilimas Generation sicher die Ausnahme. Bis heute gilt die Hochzeit als glücklichster Moment im Leben einer Hindu-Frau, obwohl ihn zugleich Trennungsschmerz und Angst begleiten. Im Hochzeitsritual überreicht der Vater dem Gatten die Tochter symbolisch als "Geschenk". Sie gehört nun zur Familie des Mannes und muss sich deren Wünschen, an erster Stelle denen der Schwiegermutter, fügen. Erst die Mutterschaft verschiebt das Verhältnis zu ihren Gunsten, sie erlangt Respekt und nimmt bis zum Lebensende großen Einfluss auf ihre Kinder und deren Angelegenheiten. In Mira Nairs Film
The Namesake – Zwei Welten, eine Reise verkörpert die Protagonistin Ashima dieses klassische Rollenbild: Die junge Frau gibt ihre musikalische Beschäftigung auf, um dem Gatten bedingungslos zu folgen – selbst wenn dies bedeutet, in einem fremden Land ohne die gewohnte Geborgenheit des Familiennetzes zu leben. Als ihr Sohn das Haus verlässt, um eigene Wege zu gehen, empfindet sie ihr Leben zunächst als seiner eigentlichen Bestimmung beraubt.
Bestimmung der Frauen
Die Wahlfreiheit über eine Berufstätigkeit trifft heute unter jungen Frauen auf breite Zustimmung. Allerdings erscheint die Single-Existenz nur bis zum 30. Lebensjahr, das als Ende des "gebärfähigen" Alters betrachtet wird, attraktiv. Meine Tante hatte insofern Glück, als ihr Vater ein modern eingestellter Mann aus gutsituierter Familie hoher Kastenzugehörigkeit in der Provinz West-Bengalen war. Er schickte Töchter wie Söhne auf die höhere Schule. Das im östlichen Indien noch weit verbreitete Dogma, nach dem die vornehmliche Bestimmung einer Frau das Gebären von Söhnen war – von denen der Älteste die Todesriten für den Vater zu vollziehen hatte – lehnte er ab. Geschichten über das traurige Schicksal bengalischer Witwen, die keinen "Zweck" mehr erfüllen und der Familie zur Last wurden, finden sich jedoch bis heute in den heiligen Städten Benares, Puri oder Vrindavan; in Nairs Film Water (2005) sind ihre dramatischen Lebensumstände eindringlich festgehalten.
Wandel von Gesellschaftsstrukturen
Heute zeigt die Situation ein facettenreiches Bild mit vielen Schattierungen. Neben Politikerinnen, Managerinnen oder Professorinnen gibt es zugleich einen hohen Anteil geächteter Frauen oder Prostituierter. Auch Indigene (Adivasi) und Unberührbare (Dalits) gehören zu den benachteiligten Gesellschaftsgruppen. Dalits beispielsweise sind aufgrund ihrer Kaste oftmals zu "unreiner Arbeit", wie Latrinen säubern, verdammt und haben wenig Aussicht auf ein Leben in Würde. Der Bildungszugang für diese Menschen ist zwar kein besonderes Privileg mehr. Mittlerweile garantieren gesetzliche Quotenregelungen Dalits oder Adivasi Studienplätze und Stellen im öffentlichen Dienst. Das im hinduistischen Glauben begründete System der Kasten, die per Geburt zugewiesene Arbeitsteilung in bestimmten Gesellschaftsgruppen, ist durchlässiger geworden. Zugleich aber ist es weit davon entfernt, sich aufzulösen und nach wie vor entscheidender Faktor bei der Mehrzahl arrangierter Ehen.
Die neue Mittelschicht
Das zeigt sich auch an der aus höheren Kasten hervorgegangenen Mittelschicht in den urbanen Zentren Kalkutta, Bombay oder Neu Delhi. Hier nahm eine rasante Umstrukturierung in der gesellschaftlichen Ordnung mit der Politik der ökonomischen Öffnung des früheren Premierministers Rajiv Gandhi (1884-1989) seit Mitte der 1980er-Jahre Gestalt an. Im Zuge von sozialpolitischen Veränderungen, dem Einfluss von Medien und neuen Technologien wurde diese konsumkräftige Mittelschicht mit etwa 300 Millionen Menschen im Wirtschaftsboom zur einflussreichen Größe in einem Staat mit einer Gesamteinwohnerzahl von einer Milliarde. Im Festhalten an Traditionen und der Integration eines modernen Lebensstils manifestiert sich heute ein neues Selbstverständnis. Für Frauen aus der Mittelschicht ist dieser Versuch des Ausgleichs oft ein schwieriger Spagat zwischen dem Wunsch nach mehr Freiheit, Individualität und Selbstständigkeit durch Bildung und Beruf einerseits und nach Anpassung an fest gefügte traditionelle Rollen anderseits. Denn der traditionelle indische Mann lehnt es in der Regel ab, sich an der Haushaltsführung oder Kinderbetreuung zu beteiligen.
Indisches Selbstbild im Hindi-Kino
Auch das populäre Hindi-Kino spiegelt diese Veränderungen der Gegenwart, beispielsweise der enorm erfolgreiche Film Etwas geschieht (Kuch kuch hota hai, Karan Johar, 1998). Hier steht das mythologische Leitbild der guten Gattin Sita zur Diskussion. Sie ist die Ehefrau des Gottes Rama, die sich im Epos Ramayana dem Feuertod aussetzt, um ihre Treue zu beweisen. Das Bild Sitas, die Personifizierung von selbstloser Hingabe, Askese und Selbstaufgabe, ist in der indischen Psyche zutiefst verwurzelt. Im Kontrast zu ihrem unterwürfigen Verhalten machen lautes Lachen, ein "schamlos" offener Blick, große Schritte – alles unfeminine und als unschicklich geltende Eigenschaften – im Film die kesse College-Studentin Anjali sympathisch.
Leben in der Großfamilie
Der Psychoanalytiker Sudhir Kakar und seine Frau Katharina stellen in dem aktuellen Gesellschaftsporträt Die Inder (2006) fest, dass trotz des steigenden Bedürfnisses von Mittelschichthaushalten, in Kernfamilien zu leben, die Großfamilie die am meisten gewünschte Form des Zusammenlebens bleibt: "Stärker als der wachsende ökonomische Wohlstand, stärker als der langsam sich wandelnde Status von zuvor unterdrückten gesellschaftlichen Schichten und sogar stärker als die anhaltende Bedeutung des religiösen Glaubens sind es die Familie und die Rolle, die Familienverpflichtungen im Leben eines Inders spielen, die den Leim bilden, der die indische Gesellschaft zusammenhält." Die Familie ist und bleibt die einzige Lebensversicherung in einem Land ohne nennenswerte staatlich finanzierte Sozialsysteme wie Arbeitslosenunterstützung oder Pflegeversicherung.
Auflösungstendenzen von Traditionen
Weil die Familie die wichtigste Institution ist, erhält auch jede Handlung erst im Familienkontext einen Sinn. Ein Kind muss früh lernen, seine Pflichten in der Familienhierarchie anzuerkennen, beispielsweise den Respekt gegenüber Älteren und ihre Autorität bei allen entscheidenden Fragen. So ist es selbst unter modernen jungen Indern die Norm, der Liebesheirat eine von den Eltern nach sozioökonomischen, religiösen und kulturspezifischen Gesichtspunkten arrangierte Zweckehe vorzuziehen. Die Auflösungstendenzen der traditionellen Hindu-Familie, die von politisch einflussreichen hindu-nationalistischen Organisationen und Parteien als Bedrohung für die Hindu-Identität und als das Resultat von "dekadenter Verwestlichung" gebrandmarkt werden, wird besonders stark in der Emigration sichtbar und ist dort zum Thema von engagierten Regisseuren/innen, darunter Mira Nair, geworden.
Literatur
Poggendorf-Kakar, Katharina: Hindu-Frauen zwischen Tradition und Moderne. Religiöse Veränderungen der indischen Mittelschicht im städtischen Umfeld, Stuttgart; Weimar 2002
Kakar, Sudhir/Kakar, Katharina: Die Inder. Porträt einer Gesellschaft, München 2006
Autor/in: Susanne Gupta, 01.06.2007
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