Hintergrund
Literaturverfilmungen auf der Berlinale
Die Verbindung zwischen Film und Literatur ist so alt, wie das Kino selbst. Vor mehr als hundert Jahren präsentierte Louis Lumière, der Pionier der Kinematografie, seine erste "Literaturverfilmung": Ein kurzer Zelluloidstreifen mit einer einzigen Einstellung, basierend auf Motiven von Johann Wolfgang Goethes
Faust. Seither greifen Filmschaffende immer wieder gerne auf den reichhaltigen literarischen Fundus zurück. So wundert es nicht, dass einigen der rund 400 Filme, die auf der diesjährigen Berlinale zu sehen sind, Dramen, Romane, Erzählungen oder Gedichte zugrunde liegen. Stoffe, die auch für junge Menschen spannend sein können, finden sich dabei nicht nur in der Kinder- und Jugendfilmsektion
Generation. Im diesjährigen
Wettbewerb läuft beispielsweise
There Will Be Blood (USA 2007), Paul Thomas Andersons Porträt eines skrupellosen Ölmagnaten in den USA des frühen 20. Jahrhunderts. Das bildgewaltige Psychogramm ungebremster Machtgier basiert auf Upton Sinclairs 1927 veröffentlichtem Roman
Oil! und kann auch Jugendliche zur gesellschaftskritischen Reflektion ermuntern.
Gruselschauer fürs Selbstvertrauen
Ein Geschichte für Kinder, wenn auch im Genre des Mysterythrillers, ist hingegen
The Ten Lives of Titanic the Cat (Titanics ti Liv) von Grethe Bøe. Der norwegische Film läuft in
Generation Kplus der Berlinale und ist eine Adaption des gleichnamigen Romans von Axel Hellstenius, der auch für das Script verantwortlich zeichnet. Hellstenius, der unter anderem das Drehbuch zu
Elling (Petter Næss, Norwegen 2001) schrieb, gehört zu den renommiertesten Filmautoren Norwegens. In enger Anlehnung an die literarische Vorlage erzählt
The Ten Lives of Titanic the Cat die geheimnisvolle Geschichte eines jungen Mädchens und einer schwarzen Katze. Im Keller des Osloer Wohnhauses, in dem die zwölfjährige Liv mit ihrer Familie lebt, ereignen sich mysteriöse Vorfälle: Menschen aus längst vergangener Zeit tauchen auf und aus einer vergilbten Fotografie springt Liv eine lebendige Katze entgegen. Den eigenen Ängsten und den Vorbehalten der Erwachsenen zum Trotz geht sie dem Geheimnis auf den Grund.
The Ten Lives of Titanic the Cat ist ein kindgerechter Mysterythriller, der angenehme Gruselschauer über den Rücken jagt, letztlich jedoch vor allem dazu ermuntert, mutig den eigenen Gefühlen zu vertrauen.
Erfahrungen eines Flüchtlingsjungen
Neuen Lebensumständen stellen muss sich der neunjährige Joseph in New Boy (Irland 2007). Hier ist es der Regisseurin Steph Green gelungen, eine hochwertige Kurzgeschichte des berühmten irischen Schriftstellers Roddy Doyle (The Commitments, 1987) in ebenso aussagekräftige wie kurzweilige elf Minuten Film zu packen. New Boy erzählt vom ersten Schultag eines afrikanischen Flüchtlingsjungen in Irland und gehört zu einem Zyklus bissig-melancholischer Kurzgeschichten, in denen Doyle die Erfahrungen von Immigranten/innen im zeitgenössischen Irland aufgreift. Mit wenigen Einstellungen skizziert der Film stilsicher die spannungsgeladene Situation eines Neuankömmlings, der sich mit den ungeschriebenen Regeln der eingeschworenen Klassengemeinschaft auseinandersetzen muss. Gezielte Rückblenden setzen Josephs Erinnerungen an seine Schulzeit in Afrika und die durchlebten Kriegsschrecken in Kontrast zum rüpelhaften, aber letztlich harmlosen Imponiergehabe seiner irischen Klassenkameraden. New Boy lebt von seinen hervorragenden Darstellern/innen, ein Film, der aus der Perspektive eines jungen Flüchtlings von kulturellen Unterschieden, Außenseitern, aber auch der befreienden und verbindenden Kraft des Lachens erzählt.
Eine Kindheit in Brasilien
Einfühlsam umgesetzt kann selbst ein hochkomplexer Literaturklassiker eine stimmige Resonanz in einem Kinderfilm finden. Mutum (Brasilien, Frankreich 2007), das Spielfilmdebüt der brasilianischen Regisseurin Sandra Kogut, läuft ebenso wie New Boy in der Reihe Generation Kplus. Basierend auf dem Roman Campo Geral (1956) von João Guimarães Rosa, erzählt Mutum die Geschichte des zehnjährigen Thiago, der mit seinen Eltern und Geschwistern im abgelegenen Hinterland Brasiliens zu Hause ist. Hier gibt es weder fließendes Wasser noch Strom, tagtäglich schuftet der Vater bis zur Erschöpfung auf den Feldern. Dennoch verlebt Thiago durch die liebevolle Zuwendung seiner Mutter und seiner Geschwister eine behütete Kindheit, die allerdings von den Eheproblemen seiner Eltern überschattet ist. Die vielschichtige Buchvorlage von João Guimarães Rosa, einem bahnbrechenden Erzähler der neueren brasilianischen Literatur, hat die Regisseurin Sandra Kogut in einen dokumentarisch anmutenden Film übersetzt. Mit einfachen Bildern und hervorragenden Laiendarsteller/innen zeigt Mutum die verwirrende Erwachsenenwelt durch die Augen eines verletzlichen Kindes, ein Film der zudem die Lebensrealität einer vom Fortschritt vergessenen Region glaubhaft in die heutige Zeit überträgt.
Literatur- und Filmklassiker
Zwei weitere Literaturadaptionen, die auch aus filmhistorischer Sicht für Jugendliche interessant sein könnten, finden sich in den Sektionen Retrospektive und Hommage. Die diesjährige Retrospektive ist dem spanischen Altmeister Luis Buñuel gewidmet, dem großen surrealistischen Filmpoeten. Während seiner produktiven mexikanischen Schaffensperiode, entstand 1952 Robinson Crusoe, die Filmversion von Daniel Defoes The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York. Der weltbekannte Abenteuerroman aus dem Jahr 1917 erzählt die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der 18 Jahre einsam auf einer Insel verbringen muss, bis er endlich auf den Eingeborenen Freitag trifft und sie ein Zufall zurück in die Zivilisation führt. Luis Buñuel durchbricht den moralistischen Realismus Defoes in poetisch verdichteten, manchmal surrealistisch verfremdeten Bildern und beschwört die große Einsamkeit und zerstörende Isoliertheit des Menschen. Zugleich ist es ihm gelungen, den einfachen Erzählduktus und das Abenteuerliche der Geschichte beizubehalten, die gerade für Jugendliche spannende Diskussionsanstöße zu persönlichen Grenzerfahrungen und ethischen Werten bietet.
Eine weitere eigenwillige Literaturverfilmung ist Die Atempause (Italien, Frankreich, Schweiz, Deutschland 1996) von Francesco Rosi, der im Rahmen der Hommage mit dem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Der heute 85-jährige Francesco Rosi, der vor allem durch seine Polizei- und Mafiadramen bekannt wurde, hat ein halbes Jahrhundert italienischer Filmgeschichte mitgeschrieben und gilt als kritischer Chronist der politischen, wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung seiner Heimat. In diesem Spätwerk erzählt Rosi von der Odyssee des aus einem nationalsozialistischen Konzentrationslager befreiten jüdischen Chemikers und späteren Schriftstellers Primo Levi. Der gleichnamige historische Augenzeugenbericht Levis aus dem Jahr 1963 beginnt mit der Befreiung von Auschwitz und berichtet von der langen Heimreise des Erzählers und seiner Kameraden. Mit stummen Gesten und Blicken setzt Rosi die eindrücklichen Schilderungen der seelischen Erstarrung der Überlebenden und ihren Kampf um die Wiedererlangung der geraubten menschlichen Würde um. Die Atempause ist ein spröder Film und seine zurückgenommene Erzählhaltung mag ungewohnt für jugendliche Sehgewohnheiten sein. Aber es ist auch ein wichtiger Film, weil er von einem historischen Trauma und dem langsamen Wiedererwachen des Lebens erzählt.
Gegenseitiger Nutzen
Natürlich ist eine gute Literaturvorlage noch lange kein Garant für eine gelungene Verfilmung, denn der mediale Verwandlungsprozess ist nicht ganz unproblematisch: Worte müssen in konkrete Bilder, Personen oder Orte umgesetzt werden, Inhalte gekürzt, verdichtet oder hinzugefügt werden. Durch die filmischen Erzählmittel wie Kameraführung, Musik, gesprochene Dialoge entsteht, unabhängig von der Qualität der Vorlage, ein eigener Ausdruck, ein neues künstlerisches Werk. Allerdings kann eine gelungene Verfilmung auf den Originaltext neugierig machen und gerade lesefaule Kinder und Jugendliche an Texte heranführen.

Ben X
Ein Beispiel hierfür ist der Film
Ben X des belgischen Regisseurs Nic Balthazar, der in der Reihe
14plus der Sektion
Generation läuft. 2002 veröffentlichte Balthazar sein Jugendbuch
Nichts war alles was er sagte über den jungen Autisten Ben, der durch die Demütigungen seiner Klassenkameraden an den Rand des Selbstmords getrieben wird. Die Filmver-
sion
Ben X setzte sich 2007 an die Spitze der erfolgreichsten flämischen Spielfilmproduktionen. Der Kinoerfolg führte dazu, dass ein Grossteil des jugendlichen Publikums nun auch das Buch lesen wollte. Eine ähnlich fruchtbare Beziehung bliebe allen guten Literaturverfilmungen der diesjährige Berlinale zu wünschen.
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Hintergrundtexte zur diesjährigen Berlinale auf fluter.de:
http://film.fluter.de/de/249
http://film.fluter.de/de/250
Autor/in: Ula Brunner, Redakteurin von kinofenster.de, 04.02.2008
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