Hintergrund
Tibet – Über die filmische Sehnsucht nach einem fernen Land
Filme über Tibet sind meist durchdrungen von einer tiefen Sehnsucht nach einer ganz anderen fernen Welt, einer ganz anderen Religion. Wie konnte ein unwirtliches, schwer zugängliches Hochland als Alternative zur westlichen Lebensrealität empfunden werden? Oder sollte man sagen: konstruiert werden? Denn Filmbilder erschaffen Weltbilder und die wenigsten von uns kennen Tibet und seinen Buddhismus aus eigener Erfahrung. Sie vertrauen auf die Weltanschauungen, die ihnen die Medien anbieten.
Exotisches Land
Überwiegend exotisch erscheint Tibet beispielsweise in Clemens Kubys Dokumentarfilm-Trilogie Das alte Ladakh (BRD 1986), Tibet – Widerstand des Geistes (BRD 1989) und Living Buddha (Deutschland 1994). Lange Kameraschwenks über weite, unbewohnte Landschaften setzen Gegenpole zu den klaustrophobisch engen Zivilisationen des Westens. Hermetische Rituale mit farbenfrohen Fahnen und ungewohnten Klängen versprechen Geheimnisse, welche die Aufklärungsnüchternheit transzendieren. Hochgebaute Tempelburgen deuten auf uralte, ungebrochene Kulturen. Hier scheint noch zu existieren, was dem Westen bereits verloren gegangen ist. Hier scheint ein anderes Zeitgefühl zu herrschen, das dem Bedürfnis vieler westlicher Menschen nach Entschleunigung entspricht.
Auf dem Dach der Welt
Living Buddha war 1994 ein Überraschungserfolg auf deutschen Kinoleinwänden. Dieser Erfolg eines Dokumentarfilms setzte das Signal, dass hier ein bislang kaum bekanntes Interesse angesprochen oder geweckt worden war. Die Produktion korrespondierte zeitlich mit zwei Spielfilmen, die ein Jahr zuvor entstanden waren. In Ab nach Tibet! schickte der Bayerische Filmemacher Herbert Achternbusch seinen zivilisationsmüden Protagonisten Hick auf das "Dach der Welt". Vor der Kultur, die er dort fand, verneigte sich Achternbusch – sonst eher als Verkünder eines absurden Lebensgefühls bekannt – mit tiefem Respekt. In der französisch-englischen Koproduktion Little Buddha erzählte der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci die Lebenslegende des Religionsstifters Siddhartha Gautama (Buddha) naiv nach, wobei er die Gegenwart dieser Religion alleine in der lamaistischen Ausprägung vorstellte, wie sie in Tibet praktiziert wird. Der Film handelt von der Suche eines tibetischen Mönchs nach der Reinkarnation seines verstorbenen Lama, die ihn auch nach Seattle, USA, führt. Durch den Einsatz von Blaufiltern lässt Bertolucci den US-amerikanischen Staat kalt und unwirtlich erscheinen. Die Orte und Gebirgszüge des Himalaja erstrahlen dagegen in einem warmen Orange. Mit solchen filmästhetischen Mitteln können Sehnsuchtszonen produziert werden.
Tibetbilder der Nationalsozialisten
Es ist auffällig, dass das Kino des Westens sich vor allem für die tibetische Variante des Buddhismus interessiert. Mit ihren Rückgriffen auf Geisterglauben, naturreligiöse Rituale und Animismus gestaltet sie Buddhas Lehren in vielerlei Hinsicht sehr eigenwillig um. Um sich eine Vorstellung von den Formen der tibetischen Religionsausübung zu machen, ist vielleicht ein älterer Film hilfreich, wenngleich dessen Produktionsumstände höchst problematisch sind: Geheimnis Tibet, ein deutscher Expeditionsbericht aus dem Jahr 1943, fotografiert und montiert von Hans A. Lettow und Ernst Schäfer. Weil SS-Führer Heinrich Himmler in Tibet die arische Urrasse vermutete, führte SS-Sturmbannführer Ernst Schäfer im Auftrag der Organisation Ahnenerbe 1938/39 eine Expedition in das schwer zugängliche Land. Die Filmbilder, die auf dieser Forschungsreise gedreht wurden, kollidieren in ihrer Archaik mit den sanften Tibet-Vorstellungen des modernen Kinos.
Sympathie für den Widerstand
Diese Vorstellungen haben die fiktiven Biografien des jungen Dalai Lama von Jean-Jacques Annaud (
Sieben Jahre in Tibet, USA 1997) und Martin Scorsese (Kundun, USA 1997) gewiss entscheidend genährt. Sie trugen zu der politischen Dimension bei, die den Mythos Tibet prägt: eine Kultur im Protest gegen die Eroberer aus China und gegen die Unterdrückungsmechanismen der Besatzung.

10 Fragen an den Dalai Lama
Eine ähnlich unreflektiert sympathisierende Haltung nimmt auch der Dokumentarfilmer Rick Ray in
10 Fragen an den Dalai Lama ein (USA 2006). Der friedliche Widerstand der hoffnungslos Unterlegenen gegen eine Übermacht schafft Mitgefühl und verstärkt die Faszination für Volk und Land. Man möge sich da durch Bilder nicht verstören lassen, wie sie der Ethnologe und Dokumentarfilmer Luc Schaedler in
Angry Monk – Eine Reise durch Tibet (Schweiz 2005) aus Dokumenten zitiert: Tibetische Guerillas bereiten einen Überfall auf eine chinesische Patrouille vor. Mönche beten für das Gelingen des Unterfangens. In
Angry Monk versucht Schaedler, das kinematografische Tibet-Bild der Gegenwart zu entromantisieren. Er dürfte es schwer haben. Denn die Projektion des Schönen, Guten und Anderen in die Fremde ist von großem Reiz.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, Publizist, Medienpädagoge und Dozent an der Universität Erlangen, 30.04.2008
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