Hintergrund
Der kurze Sommer der Anarchie
Ein Streifzug durch das Kino der 68er und seine Nachwehen
Im Frühling des Jahres 1968 besteigen zwei Gelegenheitsdealer ihre Motorräder und brausen Richtung Filmgeschichte. Gemeinsam suchen sie die Freiheit, drehen Joints zur Musik von Steppenwolf und müssen am Ende sterben, während ihre Ideale weiterleben. 1968 wurde Easy Rider (Dennis Hopper; USA 1969) abgedreht. Ein Jahr später pilgerte das Publikum in die Vorstellungen wie in eine Kirche und füllte bereitwillig die Klingelbeutel des Neuen Hollywood-Kinos. Was die Generation der 68er bewegte, wurde hier auf der Leinwand atmosphärisch eins: Freiheitsträume, die Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaft und die während des Vietnamkriegs allgegenwärtig scheinende Gewalt. In diesem Geist versuchten junge Filmschaffende, mit neuen, häufig düsteren Themen und innovativen Erzählformen die Traumfabrik im Handstreich zu erobern – und gingen stattdessen binnen weniger Jahre in ihr auf. Ihre deutlichsten Spuren hinterließ die New Hollywood getaufte Epoche (1967 bis 1976) bezeichnenderweise mit einer Geschäftsidee: dem Blockbuster-Kino.
Historisierung der 68er-Bewegung
Der Graben zwischen der tatsächlichen Bedeutung von Hollywoods "Easy Ridern" und ihrer verklärten öffentlichen Wahrnehmung zieht sich durch die Historisierung der 68er-Bewegung insgesamt. In der filmischen Rückschau scheint die Haute Couture der Protest- und Lebensformen auf dem Laufsteg der Revolution vorgeführt zu werden, die dann später als Konfektionsware in der Mitte der Gesellschaft ankam. Aus der ideologisch geprägten Verachtung für steife Hemdkragen und gute Manieren wurden Räuberzivil und lockere Umgangsformen, aus der Kommune die Wohngemeinschaft und aus der freien Liebe die Ehe ohne Trauschein. Auch wenn die Revolution nicht den erhofften Ausgang nahm, lebt sie doch im kollektiven Gedächtnis des Kinos fort. Während eines kurzen Sommers der Anarchie schien alles möglich, und weil dieses Gefühl äußerst selten ist, wird es immer wieder neu beschworen. Genau genommen setzte die Mythologisierung der späten 60er-Jahre bereits in Echtzeit ein – Agnès Vardas Dokumentarfilm Black Panthers (USA 1968) ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel. Die französische Regisseurin ging nach Kalifornien, um den revolutionären Funken der schwarzen Bürgerrechtsbewegung einzufangen, und fand ihn in den Gesichtern der Aktivisten/innen, im Pathos des zivilen Ungehorsams und manchmal auch in der Haarpracht einer schönen Frau. Jede Einstellung verrät Vardas Sehnsucht, mit dem historischen Moment eins zu sein und diesen für die Geschichte zu bewahren.
Die Realität filmisch widerspiegeln
Während sich politisch und gesellschaftlich die Ereignisse überschlugen, versuchte das Kino auf seine Weise, Schritt zu halten. Klaus Lemke beispielweise nahm mit seinem Fernsehspiel Brandstifter (BRD 1969) gedankenschnell die Spur der späteren RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin auf. In Abschied (DDR 1968) wiederum, der Verfilmung des autobiografischen Romans des ehemaligen DDR-Kulturministers Johannes R. Becher durch DEFA-Regisseur Egon Günther, war der Aufstand der Söhne gegen ihre Väter in die wilhelminische Vorkriegszeit vorverlegt. Gegen die Lebenslügen der Elterngeneration rebellieren auch die beiden Heldinnen aus Vĕra Chytilovás Tausendschönchen (Sedmikrásky, CSSR 1967). Sie halten einer moralisch kompromittierten Welt den Spiegel vor und lassen den Film in tausend Scherben einer assoziativen Erzählweise zerspringen.
Politische Zeitdokumente
Chytilová hatte damit ihre eigene Antwort auf eine berühmte Losung Jean-Luc Godards gegeben. Dieser wollte keine politischen Botschaften unters Volk bringen, sondern seine Filme politisieren, indem er mit den Konventionen der klassischen Erzählung brach. Auf dem Höhepunkt der Straßenschlachten erschien die programmatische Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit als Gebot der Stunde: Godard zeigte in One plus One (Großbritannien 1968) die Rolling Stones bei der Aufnahme des Stücks Sympathy for the Devil und verknüpfte zudem satirische Spielszenen mit (pseudo)-dokumentarischem Propagandamaterial, beispielsweise radikale Statements der Black Panthers; Brian De Palma filmte eine Theateraufführung des antiken Klassikers Die Bakchen (406 v. Chr.) des griechischen Dichters Euripides, an deren Ende Schauspieler/innen und Publikum im Namen des Gottes Dionysos die Straßen stürmen (Dionysus in 69, USA 1970); Haskell Wexler wiederum konnte hautnah dokumentieren, wie die von Tränengas gesättigte Realität eines Polizeieinsatzes in die Dreharbeiten seines Film Medium Cool (USA 1969) über die Unruhen während des Wahlkonvents der Demokraten 1968 in Chicago platzte. Auch Michael Wadleigh befand sich damals zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Seine Dokumentation über das Festival von Woodstock (Woodstock, USA 1970) brachte einen rasend schnell gewachsenen Flower-Power-Mythos auf die Leinwand und bewahrte das darin konservierte Lebensgefühl im Augenblick seines allmählichen Verschwindens.
Romantische Verklärung
Die Emanzipation der Frau zählte im Kino der 68er lediglich zu den Stellvertreterkriegen. Immerhin kehrte Rudolf Thome in Rote Sonne (BRD 1969) die geschlechtlichen Vorzeichen der Revolution augenzwinkernd um: Uschi Obermaier steht einer Schwabinger Amazonenkommune vor, die sich immer genau fünf Tage mit einem Mann vergnügt und den Ahnungslosen dann fristgerecht ins Jenseits schickt. In dieses mörderische Arrangement stolpert Marquard Bohm und bringt Obermaiers Entschlossenheit ins Wanken. Thomes Inszenierung schwebt elegant über der Politik und zitiert den Gangsterfilm mit derselben Beiläufigkeit wie die griechische Tragödie. Etwa zwanzig Jahre später wählt Louis Malle einen ähnlichen Schachzug in seiner bittersüßen Komödie Eine Komödie im Mai (Milou en mai, Frankreich, Italien 1990). Seine bürgerlichen Figuren erleben die Pariser Studentenunruhen auf einem Landsitz in der Provinz, erträumen sich beim Nachtisch ihre eigene kleine Revolution und bekommen es schließlich mit der Angst vor der eigenen Courage zu tun. Nicht nur bei Malle wächst mit der zeitlichen Distanz die Neigung zur romantischen Verklärung. Der Blick schweift über die Barrikaden und übersieht etwas pikiert den "Marsch durch die Institutionen", die oft vergeblichen Anstrengungen, die eigenen Ideale in der bürgerlichen Gesellschaft zu etablieren. Eine rühmliche Ausnahme bildet Alain Tanners Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird (Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000, Schweiz, Frankreich 1976), ein Film, der ohne Larmoyanz beschreibt, wie schwer für die rebellische 68er-Generation der Übergang in die individualistischen 1970er Jahre war.
Wahrnehmung aus zeitlicher Distanz
Man kann darüber streiten, ob sich die Freiheit der filmischen Form dem politischen Aufruhr verdankt oder durch diesen nur neue Inspiration erhielt. Unbestritten ist, dass die Erinnerung an das Jahr 1968 immer noch zu überraschenden ästhetischen Positionen führt. Als Beispiele mögen zwei neuere Filme dienen, die an einander entgegengesetzten Polen der historischen Wahrnehmung angesiedelt sind. Während Bernardo Bertolucci in
Die Träumer (The Dreamers, Großbritannien, Frankreich, Italien 2003) die realen Ereignisse in das Reich filmischer Erinnerungen entrückt, versucht Philippe Garrel in
Unruhestifter (Les amants réguliers, Frankreich 2005), die alten Wunden mit suggestiven Schwarzweiß-Bildern wieder aufzureißen. Seine grimmige Melancholie beschwört eine Vergangenheit, die nicht vergehen will, und, zumindest für Garrel, auch nicht vergehen darf.
Autor/in: Michael Kohler, Publizist und Filmkritiker, 29.05.2008
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