Organisierte Kriminaltät
Scampìa ist ein Stadtteil in der nördlichen Peripherie der italienischen Metropole Neapel. Zehntausende Menschen leben dort auf engstem Raum in heruntergekommenen Sozialbauten. Bandenkriege zwischen verschiedenen Clans der Mafia mit Schießereien und Auftragsmorden sind an der Tagesordnung. Illegale Geschäfte bringen der Camorra, wie die Mafia in den Provinzen Neapel und Caserta heißt, allein in Scampìa täglich bis zu einer halben Million Dollar Umsatz ein. Scampìa ist auch zu großen Teilen Schauplatz von
Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra, dem aktuellen Spielfilm von Matteo Garrone. Basierend auf dem gleichnamigen Tatsachenroman seines Landmanns Roberto Saviano erzählt der italienische Regisseur in fünf Erzählsträngen vom Einfluss der Organisierten Kriminalität auf das Leben der Ansässigen.
Im Schatten der Camorra
Der 13-jährige Totò ist in Scampìa aufgewachsen und träumt davon, ein "Pate" zu werden. Weil sein Vater im Gefängnis sitzt, wird die Familie von dessen Clan finanziell unterstützt.
Als sich Totò einer verfeindeten Mafiafamilie andient, kommt es zum Konflikt. Auch Don Ciro, der die Unterhaltszahlungen an Angehörige toter oder inhaftierter Mafia-Mitglieder verteilt, gerät zwischen die Fronten der erbittert rivalisierenden Clans und damit in Lebensgefahr. Eine weitere Episode erzählt von Marco und Ciro, zwei 16-jährigen Freunden. Ihrem großen Idol Tony Montana aus Brian De Palmas
Scarface (USA 1983) nacheifernd, versuchen die beiden Halbstarken ebenso dreist wie naiv das Revier eines Mafia-Clans zu übernehmen. Die eindeutigen Warnungen der "Familie" ignorieren sie geflissentlich. Der Schneider Pasquale wiederum kopiert für eine kleine Textilfabrik Haute-Couture-Ware. Als er sich entscheidet, gegen gutes Geld für die chinesische Konkurrenz zu arbeiten, kann er die schrecklichen Folgen nicht absehen. Franco und sein junger Protegé Roberto schließlich sind für die Entsorgung von Giftmüll auf illegalen Deponien verantwortlich. Als Franco bei einem Streik kurzerhand Kinder als Fahrer für die lebensgefährliche Ladung anheuert, wendet sich Roberto von der Camorra ab.
Verschachtelte Erzählform
Die insgesamt sechs Drehbuchautoren, darunter Roberto Saviano und Matteo Garrone, haben fünf Episoden aus der fakten- und figurenreichen literarischen Vorlage aufgegriffen. Ob und inwiefern die einzelnen Lebenswege und Protagonisten/innen miteinander verbunden sind, wer auf welcher Seite steht, bleibt offen. Die parallel laufenden, sich inhaltlich niemals verschränkenden Erzählstränge sowie der Mangel an eindeutigen Identifikationsfiguren
halten das Publikum auf einer gewissen Distanz, die ihm zugleich ermöglicht, das Geschehen zu reflektieren. Beispielhaft beleuchten die einzelnen Geschichten unterschiedliche Aspekte der Camorra und legen die Mechanismen offen, mit denen die Organisierte Kriminalität sich ganzer Regionen Italiens bemächtigt hat. In der verschachtelten
Montage des Films spiegelt sich die komplexe Struktur der Mafia wider und zeigt sie als weit vernetztes Unternehmen mit internationalen Geschäftsbeziehungen, das seinen Profit unter anderem aus Drogenhandel, illegaler Gift- und Sondermüllentsorgung, Markenpiraterie von Designermode und Zementhandel zieht. Die Geschichte über den Schneider Pasquale stellt zudem die Verbindung zwischen Schattenwirtschaft und legaler Wirtschaft her.
Dekonstruktion von Filmmythen
Die kühle
Farbgebung mit fahlen Grau- und Blautönen und lange Einstellungen, spärlich untermalt von italienischen Popsongs als On-Ton sowie dem eigens für den Film komponierten Stück
Herculaneum (
Off-Ton), bewirken einen nüchternen Reportagestil, der die allgegenwärtige Trostlosigkeit noch betont. Eine bewegliche
Handkamera bleibt nahe am Geschehen: Vor allem zu Beginn des Films zeigt sie die Protagonisten/innen in zahlreichen
Nahaufnahmen beim Geld eintreiben, Geld zählen, Geld weitergeben – das zentrale bildliche Motiv des Films. Im Gegensatz zu bekannten US-amerikanischen Mafia- und Gangsterfilmen wie
Goodfellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia (USA 1990) von Martin Scorsese, Brian De Palmas
Scarface oder Francis Ford Coppolas Trilogie
Der Pate (USA 1972, 1974, 1990), in denen die Kriminellen einen glamourösen Lebensstil pflegen, stilisiert und verherrlicht Garrone die Mafia nicht.

Vielmehr dekonstruiert er jene Leinwandmythen: Sein Film zeigt Menschen der ärmeren Gesellschaftsschichten bei der Erfüllung ihrer größtenteils unangenehmen und schmutzigen Pflichten für die Camorra. Ihr zentraler Antrieb, sich dieser kriminellen Organisation anzuschließen, ist die Gier nach Macht und Geld, entstanden durch die schwierigen sozialen Verhältnisse, aus denen sie stammen, angeheizt durch falsche Idole. Selbst die Hierarchie-Oberen sind hier keine eleganten Männer in Nadelstreifenanzügen, wie es dem gängigen Klischee entspricht, sondern hemdsärmelige Bewohner von trostlosen Wohnblocks, die sich im Umfeld von stillgelegten Tankstellen, illegalen Müllhalden und heruntergewirtschafteten Fabriken bewegen. In dieser korrupten, gesetz- und morallosen Parallelgesellschaft, wie sie der Film authentisch darstellt, zählt ein Menschenleben nicht viel.
Kreislauf der Abhängigkeit
Mit tragischer Ironie demonstriert Garrone anhand der Protagonisten Marco und Ciro das Auseinanderklaffen von Filmmythos und Mafia-Realität. Immer wieder spielen die beiden Szenen aus Brian De Palmas
Scarface nach und zunehmend überlagert die Fiktion ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie überschätzen sich selbst und unterschätzen die Gefahr, die von der "echten" Camorra ausgeht. Damit unterschreiben sie ihr eigenes Todesurteil. Diese Episode entlarvt den frappierenden Unterschied zwischen künstlerischer Überhöhung der Mafia
in Spielfilmen und den realen Zuständen deutlich. Ebenso wie die Geschichte des jungen Totò demonstriert sie zugleich, wie die Organisierte Kriminalität die Sozialisation und die Lebensperspektiven junger Menschen beeinflusst. In benachteiligten Vierteln wie Scampìa hat die Camorra längst Aufgaben des Staates übernommen. Sie bietet Jugendlichen ein Einkommen und damit scheinbar Hoffnung auf ein besseres Leben. In Wahrheit macht sie sich ihre Mitglieder durch Erpressung, materielle Abhängigkeit und Gewalt gefügig.
Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra wirft ein Schlaglicht auf diesen Kreislauf der kriminellen Machenschaft, aus dem die Menschen, einmal hineingeraten, kaum noch entfliehen können. Wie im titelgebenden alttestamentarischen Sodomon und Gomorrha entsteht das Bild einer korrupten und verderbten Gesellschaft. Allerdings vermeidet Garrone moralische Wertungen, weder sympathisiert er mit seinen Figuren noch verurteilt er sie. Doch keineswegs entsteht der Eindruck, ihr Schicksal bliebe ihm gleichgültig: Er zeigt die oftmals tödlichen Konsequenzen ihrer Entscheidungen – und das kann durchaus als Warnung für gefährdete Jugendliche verstanden werden.
Autor/in: Stefanie Zobl ist Publizistin mit den Schwerpunkten Film und Kultur, 26.08.2008
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