Die letzten Kriegstage
April 1945, die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Berlin liegt in Trümmern. Ängstlich verschanzen sich Frauen und Kinder in den Kellern ihrer zerstörten Häuser und harren einer ungewissen Zukunft. Sie sind Nachbarinnen und Freundinnen, Witwen und Ehefrauen, deren Männer noch an der Ostfront kämpfen. Der Einmarsch der Roten Armee wird für viele von ihnen zu einer traumatischen Erfahrung, denn sie werden von den Soldaten mehrfach vergewaltigt. So auch die knapp dreißigjährige Anonyma, eine selbstbewusste, intelligente Journalistin und Fotografin, die sich als Einzige auf Russisch verständigen kann. Ihre Erlebnisse zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945 dokumentiert sie in einem Tagebuch, das ihr Mann nach seiner Rückkehr lesen soll. Weil sie nicht in ständiger Angst vor den körperlichen Übergriffen leben will wie die anderen Frauen, von denen etliche verzweifelt Selbstmord begehen, fasst Anonyma einen Entschluss: Sie wird sich einen Beschützer suchen, einen ranghohen sowjetischen Offizier, dem sie "freiwillig zu Diensten" ist, damit er ihr seine Untergebenen vom Leibe hält. Doch es entwickelt sich, womit sie nicht gerechnet hätte: Der zurückhaltende, gebildete Andrej berührt ihr Herz, es entwickelt sich eine von echter Zuneigung geprägte Beziehung.
Strategie des Überlebens
Max Färberböcks Film basiert auf dem 2003 neu aufgelegten Tagebuch einer Zeitzeugin, die bis zu ihrem Tod anonym geblieben ist. Schon Ende der 1950er-Jahre wurde
Eine Frau in Berlin - Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945 unter dem Pseudonym "Anonyma" und unter Anleitung von Kurt W. Marek, der als Sachbuchautor unter dem Pseudonym C. W. Ceram

bekannt wurde, veröffentlicht – mit unterschiedlicher Resonanz: In den USA wurde das Buch ein großer Erfolg, in Deutschland nahm man es lange Zeit kaum zur Kenntnis. Sich zu "prostituieren", um zu überleben - das passte nicht in das Anstandsbild Nachkriegsdeutschlands. Im Film wird am Ende stellvertretend Gerd, Anonymas Mann, die Frauen nach Lektüre des Tagebuchs "schamlos" nennen. Doch welche Alternativen blieben den Berlinerinnen angesichts von existenzieller Not und sexueller Gewalt? Buch und Film porträtieren eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die individuelle Strategien des Überlebens entwickeln. Einige versuchen, die Vergewaltigungen zu bagatellisieren, andere schützen sich mit schwarzem Humor. "Wie oft?", fragen sie sich manchmal gegenseitig, als ginge es darum, einen Rekord aufzustellen. Oder sie machen sich lustig über die unerotische Ausstrahlung der sowjetischen Soldaten.
Tabus brechen
Mit seiner filmischen Adaption leistet Färberböck selbst 53 Jahre nach den historischen Ereignissen Pionierarbeit. Denn lange galten die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee als Tabuthema. Die Betroffenen schwiegen oftmals aus Scham, eine offene Anprangerung wurde dadurch erschwert, dass die Täter überwiegend Soldaten der Sowjetunion waren, die Opfer Bürgerinnen der späteren DDR. Es war gerade in der DDR nicht opportun, den Befreiern solche Vorwürfe anzulasten. Angesichts der eigenen schweren Schuld wurde es zudem in Nachkriegsdeutschland als unangemessen betrachtet,
sich mit jenen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus zu beschäftigen, bei denen die Deutschen selbst Opfer waren. Neben einer fundierten Dokumentation der Filmemacherin Helke Sander (
Befreier und Befreite. Krieg – Vergewaltigungen – Kinder, Deutschland 1992), die trotz scharfer Kritik erstmals den bestürzenden Umfang der Ereignisse mit Zahlen unterlegte, gilt
Eine Frau in Berlin bis heute als einzige Veröffentlichung aus erster Hand, wenngleich mehrfach Zweifel an der Authentizität des Buches aufgekommen sind, dessen handschriftliches Manuskript Mareks Witwe streng unter Verschluss hält. Generell wird sexualisierte Gewalt im Krieg kaum gesellschaftlich oder filmisch thematisiert; erst durch die Massenvergewaltigungen im Krieg von Bosnien und Herzegowina, deren traumatische Nachwirkungen Jasmila Žbanićs berührender Film
Esmas Geheimnis – Grbavica (Österreich, Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Kroatien 2005) schildert, rückte das Problem verstärkt in den Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung.
Ambivalentes Bild
Färberböck erzählt aus der Perspektive seiner Heldin, deren Tagebucheinträge das Geschehen aus dem Off kommentieren, nähert sich dem Sujet jedoch mit großem Einfühlungsvermögen für beide Seiten, deutsche Frauen und sowjetische Soldaten.

So schonungslos er auch das Gros des Militärs anfänglich als "Bestien" zeichnet, verliert er doch keineswegs die große Schuld der Deutschen aus dem Auge. Mit wenigen, stark unter die Haut gehenden Andeutungen, erinnert er daran, dass fast ein Drittel der über 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs aus der Sowjetunion stammten. In einer erschütternden Szene muss Anonyma die Schilderungen eines jungen Soldaten übersetzen, der erzählt, wie die deutsche Wehrmacht ein ganzes Dorf ermordete. Überhaupt gelingt dem Regisseur ein komplexes und ambivalentes Bild von Siegern und Besiegten. Nach und nach entsteht eine Beziehung zwischen Deutschen und Sowjets, die Soldaten demonstrieren nicht mehr ausschließlich ihre Macht, sie verlangen nach menschlicher Nähe, nisten sich bei den Frauen und Kindern in ihren zerbombten Häusern ein, bringen täglich Nahrung. Die Nachricht von Hitlers Suizid und der deutschen Kapitulation feiern Russen und Deutsche sogar gemeinsam.
Ästhetik der Ausweglosigkeit
Seine starke, beklemmende Wirkung verdankt der Film einem erstklassigen Ensemble und einer sensiblen ästhetischen Umsetzung.
Anonyma – Eine Frau in Berlin ist ein rasant
montiertes Kammerspiel (der größte Teil des Films spielt in Anonymas zerbombtem Wohnhaus), das die Instabilität und tendenzielle Bedrohlichkeit der Situation authentisch nachempfindet. Zugleich bewahrt sich der Film eine Subtilität bei der
Kameraführung, in den Dialogen und dem Habitus der Darsteller/innen. Die zarte Liebesgeschichte zwischen Anonyma und dem Major wird nur angedeutet, drückt sich in Blicken und heimlichen Gesten aus. In den Vergewaltigungsszenen vermeidet die Regie jeglichen Voyeurismus, die Gewalt findet sich überwiegend in der Mimik der Betroffenen wider. Angst, Ekel, Schmerz und Verzweiflung stehen den Frauen ins Gesicht geschrieben, ihren panischen Fluchtversuchen folgt die entfesselte
Handkamera hastig durch lange Kellergänge. Auch vermitteln die wenigen Schauplätze – finstere Kellergänge, provisorisch hergerichtete Wohnungen, triste Straßentrümmerlandschaften
– eine von Ausweglosigkeit und Zerstörung geprägte Atmosphäre. Nur selten wird die stringent in Grau- und Brauntönen gehaltene
Farbgestaltung beispielsweise durch bunte Tupfer in der Kleidung einer Frau aufgebrochen. Kleine Schwächen hat der Film nur im dramaturgischen Bereich. So fehlt es etwa an einer klaren Struktur der zeitlichen Abläufe. Max Färberböck gibt den Zuschauenden erst im letzten Drittel Anhaltspunkte dafür, dass sich die ersten rund 90 Minuten Erzählzeit nur auf wenige Tage erzählte Zeit beziehen. Die "gefühlte" Zeit bis zu diesem Moment entspricht hingegen angesichts der sich überschlagenden Ereignisse einer Schilderung von mehreren Wochen. Insgesamt aber ist
Anonyma – Eine Frau in Berlin eine bestürzende Bestandsaufnahme der Geschehnisse des abklingenden Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive einer Betroffenen. Ein Film, der dazu anregt, auch über die Folgen der sexualisierten Gewalt im Krieg nachzudenken, die psychische Traumata sowie eine Vielzahl von Abtreibungen oder unerwünschten Kindern mit sich brachten.
Autor/in: Kirsten Liese, Publizistin mit den Schwerpunkten Film, Frauen und Musik, 25.09.2008
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