Hintergrund
Schnitt in die Seele – weibliche Genitalverstümmelung
Alle elf Sekunden werden auf der Welt einem Mädchen mit Gewalt und unter unvorstellbaren Qualen die Klitoris und Teile der Schamlippen abgeschnitten. Weltweit sind 150 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Täglich, so das Ergebnis einer Unicef-Studie, fallen etwa 8.000 Mädchen dieser schweren Menschenrechtsverletzung zum Opfer. Praktiziert wird sie vorwiegend in 28 afrikanischen Ländern, im Süden der Arabischen Halbinsel und in einigen Ländern Asiens. In etwa der Hälfte der betroffenen Staaten gibt es Gesetze, die diese Praktik verbieten.
Formen der Genitalverstümmelung

Verbreitungsgebiet von weiblicher Genitalverstümmelung
Bei der weiblichen Genitalverstümmelung werden die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane teilweise oder ganz entfernt. Menschenrechtsaktivisten/innen bezeichnen diese Praktik nicht als "Beschneidung", sondern als Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz FGM), um deutlich zu machen, dass FGM schwerwiegendere Folgen hat als die Vorhautbeschneidung bei Jungen. Zu den häufigsten Formen der Genitalverstümmelung gehören die Klitoridektomie, bei der die Klitoris teilweise oder vollständig amputiert wird, sowie die Exzision, bei der darüber hinaus noch die kleinen Schamlippen zum Teil oder ganz abgeschnitten werden. Die Infibulation, auch "pharaonische Beschneidung" genannt, ist die extremste Form der Verstümmelung. Hierbei werden zusätzlich die äußeren Schamlippen entfernt und die Vagina bis auf eine winzige Öffnung zugenäht. Zum Geschlechtsverkehr und zur Entbindung ist es notwendig, die Vagina zu öffnen. Gelingt dies dem Mann in der Hochzeitsnacht nicht durch Penetration, greift er nicht selten zum Messer.
Schaden an Leib und Seele
Die weibliche Genitalverstümmelung ist ein Eingriff, der nicht wieder rückgängig zu machen ist. FGM wird in der Regel von Beschneiderinnen, die kaum medizinische Kenntnisse besitzen, mit Messern, Rasierklingen oder anderen scharfen Gegenständen vorgenommen. Meist ohne Narkose durchgeführt und ohne sterile Instrumente, leiden die Opfer während dieser Prozedur unter furchtbaren Schmerzen, in deren Folge es zu Blutvergiftung, Wundstarrkrampf oder gar Verbluten kommen kann. Werden mehrere Mädchen mit dem gleichen Werkzeug verstümmelt, besteht die Gefahr, dass HIV oder Hepatitis übertragen werden.
Langfristige Folgen
Langfristig ist die körperliche, seelische und sexuelle Gesundheit der Mädchen und Frauen stark beeinträchtigt. Verletzungen der Harnröhre und Probleme beim Wasserlassen können etwa dauerhafte Infektionen im Harnbereich und Unterleib nach sich ziehen. An der Narbe kann es zu Eiterungen oder Wucherungen kommen, die den Geschlechtsverkehr und den Geburtsverlauf erschweren, wobei letzteres eine hohe Kinder- und Müttersterblichkeit zur Folge hat. Bei infibulierten Frauen kann sich die Monatsblutung stauen, was häufig zur Unfruchtbarkeit führt. Für den Mann ist dies in Teilen Afrikas ein Scheidungsgrund, denn die Großfamilie bedeutet in vielen afrikanischen Gesellschaften die einzige soziale Absicherung Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass FGM ähnliche psychische Auswirkungen hat wie Vergewaltigung oder Folter. Es können Angstreaktionen, Konzentrationsschwäche, gestörtes Essverhalten oder Depressionen auftreten. Bis zu 25% der Betroffenen, so die WHO, sterben an den direkten oder langfristigen Folgen der Genitalverstümmelung.
Begründungen für die Praxis
Es gibt verschiedene traditionelle Begründungen, warum weibliche Genitalverstümmelung durchgeführt wird, die sich je nach ethnischer, kultureller oder regionaler Zugehörigkeit unterscheiden. Häufig ist FGM in Initiationsriten beim Übergang vom Mädchen zur Frau eingebettet. Erst Initiierte gelten als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und sind somit heiratsfähig. Deshalb lassen viele Eltern ihre Töchter weiterhin verstümmeln, in dem Glauben, ihnen nur so eine ehrbare Existenz als Ehefrau sichern zu können. Die Verstümmelungen werden oft als religiöse und gesellschaftliche Pflicht angesehen. Allerdings verlangen weder Bibel noch Koran den Eingriff. Die vermeintlichen Rechtfertigungen beruhen meist auf Unwissenheit und traditionellen Wertvorstellungen. Der verbreitete Glaube, dass die Praktik die Fruchtbarkeit erhöhe, ist ebenso wenig zutreffend, wie die Vorstellung, dass durch den Eingriff die Jungfräulichkeit vor der Ehe und die sexuelle Treue sichergestellt werden. Tatsächlich geht es um die Unterdrückung und Kontrolle weiblicher Sexualität im Rahmen männlicher Machtansprüche. In jüngster Zeit werden Mädchen immer früher, zum Teil bereits als Säuglinge beschnitten. So soll sichergestellt werden, dass sie sich diesem Ritual nicht entziehen, denn Aufklärungsprogramme zeigen Wirkung und ältere Mädchen fliehen bei einer drohenden Genitalverstümmelung oft aus ihren Familien.
Aufklärungsprogramme
Besondere Bedeutung im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung kommt den Aufklärungsprojekten vor Ort zu. Aus diesem Grund unterstützt etwa die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes Projekte in Sierra Leone und Burkina Faso. Diese werden von mutigen, einheimischen Frauen geleitet, die sich zum Ziel gesetzt haben, über die schwerwiegenden Folgen von Genitalverstümmelung zu informieren und so ganze Dorfgemeinschaften davon zu überzeugen, die Mädchen künftig davor zu bewahren.
FGM in westlichen Ländern
Durch Zuwanderung aus Gebieten, in denen FGM verbreitet ist, leben Betroffene heute auch in Europa, den USA, Kanada und Australien. Viele halten auch in ihrer neuen Heimat an den Traditionen ihrer Herkunftsländer fest. Nach Schätzungen von Terre des Femmes sind allein in Deutschland über 20.000 Frauen betroffen und mehr als 5.000 Mädchen gefährdet. Die Mädchen werden in den Ferien in ihren Heimatländern oder auch heimlich in Deutschland der Praxis unterzogen. Alle bisherigen Strafverfahren in Deutschland mussten jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt werden.
Die Rechtslage in Deutschland
Einige europäische Länder, wie etwa Großbritannien und Schweden, haben spezielle Gesetze erlassen, die Genitalverstümmelung als eigenen Straftatbestand werten. In Deutschland hingegen ist FGM lediglich als gefährliche Körperverletzung strafbar. Bisher setzte die Verjährung von Genitalverstümmelung, unabhängig vom Alter des Opfers, zehn Jahre nach der Tat ein. Im Juli 2009 beschloss der Bundestag eine Neuregelung, die die Verjährungsfrist erst mit dem 18. Lebensjahr einsetzen lässt. Nun haben die Betroffenen die Möglichkeit, bis zu ihrem 28. Lebensjahr Anzeige zu erstatten. Dies ist insofern von Bedeutung, da die Mädchen meist in sehr jungen Jahren verstümmelt werden und so bei einer 10-jährigen Verjährungsfrist noch minderjährig und von den Eltern abhängig sind.
Autor/in: Heike Blautzik ist Mitarbeiterin im Referat gegen Genitalverstümmelung bei Terre des Femmes, 28.08.2009
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