Interview
"Mir war klar, dass ich eines Tages dagegen kämpfen würde."
Ein E-Mail-Interview mit Waris Dirie über die Verfilmung ihrer Autobiografie und ihr Engagement gegen die weibliche Genitalverstümmelung.

Waris Dirie
Waris Dirie wurde um 1965 in Somalia als Tochter einer muslimischen Nomadenfamilie geboren. Ihr Vorname bedeutet "Wüstenblume". Im Alter von fünf Jahren wurde sie Opfer weiblicher Genitalverstümmelung (FGM: Female Genital Mutilation). Als sie 13-jährig mit einem älteren Mann verheiratet werden sollte, flüchtete sie zu Verwandten nach Mogadischu, die ihr eine Arbeit in der somalischen Botschaft in London verschafften. 1987 wurde sie in der britischen Hauptstadt von dem Fotografen Terence Donovan entdeckt, der sie für den Pirelli-Kalender ablichtete – der Beginn ihrer Karriere als Top-Model. 1997, während eines Interviews für NBC und für das Magazin Marie Claire, beschloss Waris Dirie, über die fortwährende Tradition der Genitalverstümmelung und ihr eigenes Schicksal zu berichten und machte damit weltweit auf diese Praxis von FGM aufmerksam. Im selben Jahr erschien ihre Biografie
Desert Flower in New York, die ein internationaler Bestseller wurde und 1999 in der deutschen Übersetzung erschien (
Wüstenblume); es folgen weitere autobiografische Bücher zum Thema. Von 1997 bis 2003 war Waris Dirie UN-Sonderbotschafterin gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien. 2002 gründete sie ihre eigene Organisation, die Waris Dirie Foundation mit Hauptsitz in Österreich. Im Januar 2009 wurde Waris Dirie Gründungsmitglied der PPR Foundation for Women's Dignity and Rights, die der französische Unternehmer François Henri Pinault mit seiner Ehefrau Salma Hayek ins Leben gerufen hat. Waris Dirie ist österreichische Staatsbürgerin und Mutter zweier Söhne.
Frau Dirie, wie haben Sie sich gefühlt, als Sie zum ersten Mal Sherry Hormanns Film über Ihr Leben gesehen haben?
Ich war wütend, traurig, voller Emotionen. Es war nicht leicht mein Leben so dargestellt zu sehen. Ich war völlig aufgewühlt am Ende. Diese Szenen mit der Beschneidung haben mich komplett aus der Fassung gebracht. Wenn die Menschen das nicht berührt, weiß ich auch nicht mehr weiter.
Gefiel Ihnen die Idee des Filmprojekts von Anfang an?
Am Anfang hatte ich große Zweifel. Es ist nicht einfach, sein eigenes Leben auf der Leinwand zu sehen und seine intimsten Verletzungen derart in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber dann habe ich zugestimmt. Ich will, dass dieser Film den Menschen in der ganzen Welt klar macht, dass diese grausame Praxis nichts mit Religion, Kultur und Tradition zu tun hat.
Was war Ihnen bei der Adaption Ihrer Autobiografie wichtig?
Als Koproduzentin war ich nah dran. Für mich war wichtig, dass vor allem die Szenen in Afrika, die in Dschibuti unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen gedreht wurden, echt und authentisch sind.
Würden Sie sagen, dass Sherry Hormanns Adaption die Verfilmung Ihres Lebens ist?
Der Film erzählt meine Geschichte, mein Leben. Aber natürlich kann man ein Leben nicht komplett nacherzählen. Ich habe nach Wüstenblume weitere Bücher geschrieben, um den Menschen im Westen mehr Einblick in das wahre Afrika zu geben. Ich glaube, die meisten Menschen hier haben keine Ahnung und kennen Afrika bestenfalls aus Touristenfilmchen oder den Nachrichtensendungen, die über Kriege und Katastrophen berichten.
Wie viel Einfluss hatten Sie auf das Drehbuch und die Filmarbeiten?
Ich hatte in allen Produktionsschritten ein Mitspracherecht bis zum Final Cut.
Der Film vermittelt den Eindruck, dass der Beginn Ihrer Model-Karriere eine Art Befreiungsschlag gewesen war, als wenn Sie dadurch selbstbewusster geworden wären.
Nein, für mich war es ein Job, mit dem ich einfach mehr Geld verdienen konnte als als Putzfrau. Das Beste an diesem Job waren eindeutig die tollen Reisen.
Warum wollten Sie öffentlich über das traumatisches Erlebnis ihrer Beschneidung sprechen?
Als ich nach dieser schrecklichen Tortur wieder das Bewusstsein erlangte, wusste ich, obwohl ich noch ein kleines Mädchen war, dass mit mir etwas geschehen war, dass unrecht und falsch war. Obwohl ich nicht wusste wie, wann und wo war mir klar, dass ich eines Tages dagegen kämpfen würde.
Die weibliche Genitalverstümmelung ist in vielen Ländern traditionell fest verankert. Sie kämpfen seit über zwölf Jahren dagegen an. Wie reagieren die Menschen auf Ihr Engagement?
Ich bekomme sehr viel Zustimmung aus der ganzen Welt und tausende E-Mails. Aber die Leute müssen verstehen, dass das nicht alleine mein Kampf ist. 150 Millionen Frauen sind Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung. Jeder Einzelne ist verpflichtet, etwas dagegen zu unternehmen und im Besonderen die Politiker, deren Unterstützung ich schmerzlich vermisse. Wären weiße Mädchen betroffen, wäre das längst kein Thema mehr, es wäre längst ausgerottet. Aber diese Mädchen in der dritten Welt haben keine Lobby. Die Bürger müssen Druck auf ihre Politiker machen, so dass weltweit strenge Gesetze gegen weibliche Genitalverstümmelung erlassen werden und, dass die Menschen endlich aufgeklärt werden, damit dieses Verbrechen aufhört.
Die Genitalverstümmelung wird meist von Frauen, die als Beschneiderinnen arbeiten, durchgeführt. Warum tun Frauen dies ihren Geschlechtsgenossinnen an?
Sie verdienen ihren Lebensunterhalt damit, können weder lesen noch schreiben, wissen nichts von der Welt außerhalb ihrer Dörfer und denken, dass sie das Richtige machen.
Täglich werden etwa 8.000 Mädchen und Frauen an den Genitalien beschnitten. Glauben Sie, dass man dieses Ritual gänzlich unterbinden kann?
Weibliche Genitalverstümmelung wird eines Tages Geschichte sein, davon bin ich überzeugt. Aber es bedarf der Unterstützung aller Menschen, dass diese zynischste Art von Kindesmissbrauch endlich ausgerottet wird.
Autor/in: Kirsten Taylor, Redakteurin bei kinofenster.de und fluter.de, 28.08.2009
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.