Hintergrund
Mitfühlen und Halten
Vom Umgang mit traumatisierten Kindern
Die Kinder seien "traumatisiert", heißt es wiederholt in dem Drama
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeau, Kanada 2011). Damit ist gemeint, dass sie etwas überwältigend Schlimmes erlebt haben, an das sie nicht denken können, ohne erneut von Angst und Schrecken überflutet zu werden. Etwas Gewaltsames ohne erkennbaren Sinn, etwas, was aus all ihren Lebenserfahrungen heraus fällt, ist über sie hereingebrochen, ohne dass sie dagegen ankämpfen oder davon flüchten konnten. Ein Selbstmord, wie er am Anfang der Filmerzählung steht, ist eine Gewalttat auch gegen diejenigen, die den Toten finden müssen, und ebenso gegen alle, die sich dann fragen müssen, ob sie Schuld daran tragen.
Verdrängung ist normal
Es ist normal, dass Erwachsene wie Kinder zunächst versuchen, nicht mehr an das traumatisierende Ereignis zu denken. Sie möchten zur Tagesordnung übergehen und sich einreden, dass das Erlebnis eigentlich bedeutungslos sei und sie gar nicht so sehr berührt habe. Aber die Erfahrung zeigt, dass nach einer Zeit der Ruhe, in der alles gut zu gehen scheint, die Erinnerung die Betroffenen einholt. Man kann ein Trauma nicht vergessen. Es bleibt im Gedächtnis eingeschrieben, auch wenn man es nicht wahrnimmt. Die Psyche aber versucht es aus dem Bewusstsein fernzuhalten, jeden Gedanken daran zu unterbinden. Sie versucht den gefährlichen Gedächtnisinhalt wie in einer Kapsel abzuschließen.
Der Schrecken bleibt
Simon fühlt sich schuldig
Bachir Lazhar, die erwachsene Hauptfigur in
Monsieur Lazhar, weiß aus eigener Erfahrung, dass ein Trauma früher oder später wieder ins Bewusstsein fahren kann wie ein Blitz. Eine Anmutung, ein Geruch, ein Geräusch, eine Geste, ein unpassendes Wort können es aus seiner Abkapselung hervorrufen. Dann weiß der Betroffene oft gar nicht, was ihn plötzlich in Panik versetzt, ihm Angstschweiß, Herzrasen und Entsetzen verursacht. Er versteht nicht, warum ihn im Schlaf fürchterliche Träume überfallen oder weshalb ihn plötzlich eine rasende Wut packt. Es kann sein, dass nur die Gefühle mit Macht wieder hervorbrechen, die die Betroffenen damals im Augenblick des Traumas erlebt haben. Ebenso ist aber auch möglich, dass sie sich plötzlich wieder an die gesamte Situation erinnern, die sie doch so gern vergessen wollen, und dass sie sie mit all ihrem Schrecken und all ihrer Bedrohlichkeit im Geiste erneut erleben. Das fühlt sich dann an, als sei es gerade erst eben, jetzt in diesem Moment geschehen. Das Besondere und Schlimme an einer traumatischen Erinnerung ist, dass man sie nicht denken kann, indem man sich sagt: "Es ist ja zum Glück vorbei, es passiert nicht heute!" Sie verliert ihren Schrecken nicht, im Gegenteil: Jeder Panikanfall, jedes Wiederaufleben kann dem ursprünglichen Trauma ein neues traumatisches Erlebnis hinzufügen.
Hilfe ist möglich
Monsieur Lazhar weiß aber auch, dass man traumatisierten Menschen helfen kann, dass man sich der traumatischen Erfahrung behutsam nähern kann, Schritt für Schritt. Das geht manchmal leichter in Begleitung eines anderen Menschen. Für Kinder ist ein hilfreicher Erwachsener unerlässlich, der, bildlich gesprochen, ihre Hand nimmt und sie hält. Deshalb versucht Bachir Lazhar mit den Kindern zu sprechen, solange sie noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Traumas stehen, während die anderen Erwachsenen Angst davor haben, daran zu rühren. Sie sorgen dafür, dass die Kinder in der Schule psychologisch betreut werden, versuchen aber dennoch, dem Trauma die Bedeutung zu entziehen, es zu bagatellisieren.
Von der Familie in die Schule
In
Monsieur Lazhar ist das traumatische Ereignis, der demonstrative Selbstmord der Lehrerin Martine Lachance, eingebettet in Lehrer-Schüler-Beziehungen. Die Kinder waren mehr oder weniger intensiv, mehr oder weniger konfliktreich mit ihr verbunden. Am Beispiel des kleinen Simon zeigt der Film, dass zwischen Lehrern/innen und Schülern/innen Konflikte mitschwingen können, die eigentlich aus der Familie stammen. Das ist nicht ungewöhnlich. "Sie hat mich behandelt wie meine Mutter, und ich wollte das nicht", sagt Simon, als er von der – seinem Empfinden nach unangemessenen – Zärtlichkeit seitens der Lehrerin berichtet. Mit ihr, nicht mit der Mutter hat er einen offenen Konflikt gewagt. Aber auch in positiver Hinsicht kann ein/e Lehrer/in für ein Kind einen Aspekt der Eltern übernehmen und damit unentbehrlich werden. Vielleicht hat es Alice so erlebt, deren alleinerziehende Mutter häufig aus beruflichen Gründen abwesend ist. Alice liebt ihre Schule.
Wut und Schuldgefühle
Alice kann nicht um die verlorene Lehrerin trauern, weil sie die Feindseligkeit und Gewaltsamkeit des Suizids spürt. Das Bild hat sich ihr eingebrannt. Sie ist von Wut auf die Lehrerin erfüllt, die sich als unzuverlässig, lieblos und destruktiv erwiesen hat. Ihre Wut verdeckt alle positiven Gefühle, die sie zuvor für Martine hatte. Sie kann aber die Bindung nicht lösen, solange sie nicht trauern kann, und so steht das grausige Bild immer vor ihren Augen. Simon hat es noch schwerer, weil er sich in einem offenen Konflikt mit Martine Lachance befand, der die Lehrerin in große Schwierigkeiten gebracht hat. Deshalb nimmt der Junge an, dass die schreckliche Inszenierung ihm persönlich gelten könnte. Das Schuldgefühl ist unerträglich für ihn. Er versucht es abzuwehren mit Kaspereien und – sehr harmlos dargestellten – aggressiven Attacken. "Dann bin ich eben so böse, wie sie mich haben wollte." Trotz soll das Schuldgefühl übertönen.
Ein verlässlicher Begleiter
Schuldkonflikte und Wut auf den Verstorbenen, der sich einfach davongemacht hat, sind unvermeidliche und sehr typische Aspekte der Trauer, die der Film
Monsieur Lazhar herausarbeitet. Kinder können ein Trauma eher überstehen, wenn ihnen eine hilfreiche Person zur Seite steht wie im Film eben die Figur des Bachir Lazhar: Für Alice stellt er die Verbindung zu ihren liebevollen Gefühlen wieder her, mit Worten ("Wir haben Personen immer im Kopf, weil wir sie geliebt haben und sie uns.") und vor allem durch seine Haltung. Simon bietet er einen inneren Raum an, in dem das Kind sein Schuldgefühl aussprechen kann. Mehr noch durch erwachsenes Mitfühlen und Halten als durch seine Worte vermittelt er, dass Simon an Martines Tod nicht schuldig sein kann. Vor allem zeigt er allen Kindern, dass man mit dem Erlebnis leben muss und kann, dass es für manche Dinge keinen vernünftigen Grund gibt, dass man nach ihrem Sinn nicht suchen muss. Die Beziehung der beiden Kinder ist vorübergehend schwer belastet, und doch erleichtern Alices bittere Vorwürfe an Simon im Klassenverband und sein damit einhergehender Gefühlsausbruch diesem, sich seiner Verzweiflung zu stellen. Das wäre ohne die einfühlsame, niemals intrusive, aber zuverlässig haltende Gegenwart des Lehrers kaum möglich gewesen.
Monsieur Lazhar ist ein Plädoyer für eine Schule, die die menschlichen Beziehungen niemals hinter dem Lehrplan zurückstehen lässt.
Autor/in: Rose Ahlheim, Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapeutin in Berlin, 28.03.2012
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