Philippe Falardeau, geboren 1968 im kanadischen Hull, studierte Politikwissenschaften in Ottawa und Québec. 1992 beteiligte er sich an der Fernsehreihe
La Course destination monde, einer Weltreise mit Filmwettbewerb, den er mit seinen Beiträgen gewann. Nach seiner Rückkehr begann seine Laufbahn als Filmemacher: zunächst mit Dokumentar-, später mit Spielfilmen wie der Tragikomödie
Ich schwör's, ich war's nicht! (C'est pas moi, je le jure!, Kanada 2008), die unter anderem mit dem Gläsernen Bären der Berlinale 2009 sowie mit dem Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerk ausgezeichnet wurde.
Monsieur Lazhar ist sein vierter Spielfilm.
Herr Falardeau, Monsieur Lazhar beginnt mit einem Schock: Eine Schülerin und ein Schüler finden ihre Lehrerin erhängt im Klassenzimmer. Warum ist diese Szene für den Film so wichtig?
Es gab ungefähr neun Versionen des Skripts und bis zum siebten haben alle Drehbücher drei Tage nach Entdeckung des Selbstmords eingesetzt. Wenn man mit diesen Charakteren fühlen möchte, dann muss man aber mit ihnen gemeinsam das Trauma erfahren. Man muss als Zuschauer ein Gefühl für diesen dramatischen Anfang haben und deshalb habe ich beschlossen, die erhängte Lehrerin aus der Perspektive der beiden Kinder zu zeigen – ohne es jedoch zu offensichtlich werden zu lassen.
Warum bringt sich die Lehrerin in der Schule um?
Ich denke, Ihre Vermutungen sind da so gut wie meine. Das Interessante ist, wie die Menschen, die weiter leben, damit umgehen. Was macht es mit der Klasse? Was mit der Schule? Wenn jemand Selbstmord begeht, stellt sich immer die große Frage nach dem Warum. Der wirkliche Grund verschwindet aber mit der Person, die gestorben ist. Was bleibt, sind die Gründe, die mit uns zu tun haben. Trage ich Schuld? Hätte ich etwas tun können, um es zu verhindern?
Wie haben Sie die Kinderdarsteller auf den Umgang mit so schwierigen Themen wie Selbstmord und Verlust vorbereitet?
Zusammen mit den Eltern. Manchmal wird mir die Frage gestellt, ob es schwierig war, mit den Kindern zu drehen. Dann muss ich sie daran erinnern, dass sich die Geschichte für die Kinderdarsteller nicht in anderthalb Stunden abgespielt hat. Der Film ist in monatelanger Arbeit entstanden. Sie haben das Drehbuch gelesen. Und ich habe beim Dreh im Grunde das gemacht, was auch Monsieur Lazhar macht: Ich habe den Kindern den Freiraum gegeben, sich selbst über die Geschehnisse auszudrücken.
Wer steht denn im Zentrum Ihres Films: der Lehrer oder die Kinder?
Als ich das Drehbuch schrieb, dachte ich, es würde sich die Waage halten. Später beim
Schnitt dachte ich allerdings, dass Bachir Lazar im Mittelpunkt stünde. Alice ist allerdings ebenso wichtig, denn der Film beginnt mit ihr und sie stellt dem Lehrer viele Fragen. Wir blicken durch seine Augen auf unsere Gesellschaft und durch ihre Augen auf ihn. Ich finde, die beiden sind die Hauptfiguren meines Films.
Der Film basiert auf einem Theaterstück von Evelyne de la Chenelière.
Es handelte sich um ein Ein-Personen-Stück, in dem Bachir Lazhar die einzige Person auf der Bühne ist. Die Kinder etwa muss man sich als Zuschauer vorstellen. Was mich interessiert hat, war die Menschlichkeit des Immigranten, der zwar seine eigene Geschichte für sich behält, aber weiß, dass er den Kindern helfen kann. Darüber hinaus wollte ich einen Film mit einer Immigrantenfigur machen. Bei dem Stück liegt der Hauptfokus nicht auf dem Thema Immigration. So konnte ich von einer Hauptfigur mit Flüchtlingsvergangenheit erzählen, ohne mich in den politischen Aspekten zu verstricken.
In Ihren Filmen ist Immigration ein wiederkehrendes Thema. Warum?
Ich denke jeder, der heutzutage in einer Großstadt lebt, kommt mit dem Thema Immigration in Berührung. Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich mich für das Thema Immigration interessiert habe. 1992 habe ich an einer Fernsehsendung teilgenommen, die
La Course destination monde hieß und bei der ich 26 Wochen allein reisen und 20 Kurzfilme drehen musste. Dabei war ich immer der Fremde. Als ich nach Hause kam, dachte ich jedes Mal, wenn ich einen Immigranten gesehen habe: Er ist in einem anderen Land und alles um ihn herum ist ihm fremd. Das und die Frage nach dem Umgang damit, haben mich fasziniert.
Hauptdarsteller Mohamed Fellag hat nach einem Bombenanschlag bei einem seiner Auftritte sein Heimatland Algerien verlassen und lebt seit 1995 in Frankreich. Glauben Sie, dass seine Vergangenheit auch seine Darstellung des Lazhar beeinflusst hat?
Ich denke, er hat sich sehr bemüht, sich nicht von seinem persönlichen Hintergrund beeinflussen zu lassen, aber letztlich war das sicherlich unmöglich. Vor allem in den letzten Wochen der Dreharbeiten wurde er sprichwörtlich zu Monsieur Lazhar. Zu Beginn des Drehs wollte er das noch hinter seinen schauspielerischen Fähigkeiten verbergen. Was man am Ende des Filmes aber sehen kann, ist eine Mischung aus Fellag und Lazhar. Aber er hat darauf vielleicht eine ganz andere Antwort.