Interview
Die Lüge des Genre-Kinos
Ein Gespräch mit Michael Haneke
Das Interview führte Margret Köhler.
Interviewpartner: Michael Haneke
In Ihrer Trilogie Der siebente Kontinent, Bennys Video und 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls geht es um Gewalt, auch um Mediengewalt. In Funny Games ebenfalls. Was reizt Sie an diesem Sujet?
Ich bin nicht auf das Gewaltthema abonniert, aber ich versuche, gesellschaftliche Entwicklungen wahrzunehmen, auch die im Medienbereich. Als Filmemacher bin ich gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen. Wenn Film eine Kunstform sein will, ist sie verpflichtet, ihr eigenes Medium zu reflektieren.
Funny Games bezeichnen Sie als eine Polemik gegen die domestizierte Gewalt, aber gleichzeitig schocken Sie auch durch Gewalt.
Die Gewalt im Mainstream-Kino, mit der man das große Geschäft machen möchte, ist eine Gewalt, die nicht weh tun darf. Aus der Sicht der Täter dargestellt, macht sie Mittäterschaft so lustvoll, eben weil die Tat im Mittelpunkt steht, nicht das Opfer. Zum anderen wird im Actionfilm Gewalt meistens durch die Vorgeschichte legitimiert, die dem Täter das Recht gibt, Gewalt auszuüben. Hinzu kommt die Verharmlosung durch Ästhetisierung. Auf diese Weise wird Gewalt mit einem angenehmen Grusel- oder Unterhaltungseffekt vermittelt. Dagegen polemisiere ich, indem ich die Gewalt nicht legitimiere, sondern aus der Perspektive der Opfer zeige, nicht die Tat an sich, sondern das Resultat.
Die Opfer haben keine Chance. War diese Härte und Hoffnungslosigkeit notwendig, oder wollten Sie damit nur provozieren?
Schock ist Mittel zum Zweck. Die 'Erkenntnis' findet nie freiwillig statt. Der Film musste hart sein, sonst wäre der Zuschauer erleichtert. Ich wollte nicht nach der Devise handeln "Wasch' mir den Pelz, aber mach mich nicht nass". Diese Haltung entsteht, wenn man Kino als Konsumartikel wahrnimmt, für den man bezahlt.
Das so genannte 'Gute' existiert nicht für Sie?
Wenn ein Thriller dem Zuschauer verspricht, dass am Ende das Gute siegt, halte ich das für wirklichkeitsfremd. Wenn zwei Menschen in mein Haus kommen und mich umbringen wollen, tun sie das. Alles andere ist Lüge. Es geht darum, diese Lüge des Genre-Kinos zu entlarven oder zumindest zur Diskussion zu stellen. Die Welt ist nicht in Ordnung, auch wenn wir das möchten.
Halten Sie Medien für eine Gewaltstimulanz?
Die Hypothese, Medien stimulieren den Zuschauer zu Gewalttaten, halte ich für kurzschlüssig. Die Gewöhnung spielt eine große Rolle, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Für sie ist die Differenzierung zwischen dokumentarischer Gewalt in den Nachrichten und fiktiver im Spielfilm schwierig.
Funny Games löst Abwehrreaktionen aus. Glauben Sie, auf diese Weise Bewusstsein verändern zu können?
Ich glaube nicht, dass ein Buch oder ein Film Bewusstsein oder Verhalten verändern kann. Wenn Funny Games es schafft, einige Zuschauer dazu zu bringen, die Rolle der Gewalt in den Medien und ihre eigene Position zu reflektieren, dann habe ich schon viel erreicht. Es wäre naiv, an die Veränderung der Medienlandschaft zu glauben. Ich will den Zuschauer mit Fragen entlassen statt mit vorschnellen Antworten.
Autor/in: Margret Köhler, 12.12.2006