Nach wenig überzeugenden Abstechern in Hollywood und re spektablen Versuchen, die irische Geschichte in Großproduktionen zu bebildern, ist Neil Jordan mit
Butcher Boy – Der Schlächterbursche zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und bewegt sich mit diesem Film wieder auf 'sicherem' Terrain. Zu Hilfe kam ihm dabei der irische Romancier Patrick McCabe, Autor der Romanvorlage von 1992. Gemeinsam mit Jordan schrieb McCabe das Drehbuch, was keine leichte Aufgabe gewesen sein dürfte, angesichts der zum Teil rüden Sprache und des ruppig-fragmentarischen Stils der literarischen Vorlage. Jordan und McCabe ist es jedoch gelungen, die 260 Seiten des Buches zu einer stringenten Film-Handlung zu komprimieren.
Erzählt wird die Geschichte des heranwachsenden Francie Brady in einem kleinen irischen Provinznest zu Beginn der 60er Jahre. Der Vater, ein liebenswürdiger, aber rauer und alkoholabhängiger Nichtsnutz, die Mutter psychisch labil und vom Leben überfordert. Dazwischen steht Francie, weitgehend auf sich allein gestellt, durch das Außenseitertum der Eltern auch unter den Altersgenossen isoliert und gebrandmarkt als "Gossenjunge". Einzig Joe, ein Freund aus der Nachbarschaft, ist emotionaler Bezugspunkt und "Blutsbruder". Doch Jordan/McCabe hatten anderes im Sinne als soziales Mitleid mit einem heranwachsenden Underdog. So erscheint Francie trotz seiner rotznäsigen Frechheit als durchaus liebenswürdig, als Sympathieträger inmitten kleinbürgerlich-bigotter Provinzialität. Mit seinem bulligen Charme gelingt es Francie-Darsteller Eamonn Owens, die Herzen der Zuschauer zu erobern. Schlecht weg kommt dagegen Francies soziales Umfeld: allen voran die aus England (!) stammende hochnäsige Nachbarin Mrs. Nugent mitsamt ihrem Strebersöhnchen, sowie Lehrer, Erzieher und die schmierig-pädophilen Kirchenvertreter. Das Unglück nimmt erst seinen Lauf, als Francies emotionale Bindungen gekappt werden. Die Mutter erleidet mehrere psychische Zusammenbrüche und bringt sich schließlich um. Der Vater säuft sich zu Tode. Zum entscheidenden Wendepunkt in Francies Adoleszenz wird die Abkehr von Joe, der sich auf die Seite des "Establishments" schlägt. So wird Francie endgültig zum "lonely loser", schert sich nicht mehr um gesellschaftliche Konventionen und bricht aus dem 'normalen' Leben aus. Fluchtmöglichkeiten, die früher noch von Bedeutung waren – die Welt der Fantasie, der Comics, des Fernsehens, die Freundschaft mit Joe – reichen nicht mehr aus oder bieten kein Schutzschild mehr.
Der Ablehnung durch die Gesellschaft stellt sich Francie nun aggressiv entgegen: Mrs. Nugent, die in einer Schlüsselszene des Films die Bradys als "Schweine" bezeichnet hat, wird in einem Akt beszialischer Brutalität im wahrsten Sinne des Wortes 'geschlachtet'. Francie reagiert auf die Rohheit und Intoleranz der Gesellschaft mit brachialer Gewalt. Danach verschwindet er für Jahre hinter Gefängnismauern. Die letzte Szene des Films zeigt ihn als jungen Mann wieder in Freiheit – ob geläutert oder nicht, lässt Neil Jordan freilich offen; eher macht Francie einen verwirrten, desorientierten Eindruck. Es dürfte ihm schwer fallen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Das alles zeigen uns Jordan/McCabe ohne erhobenen Zeigefinger. "Ich berichte nur, was passiert", sagt Patrick McCabe, "um einen Mord zu verhindern, muss man zuerst einmal den Mörder verstehen." Neil Jordan hat sich dieser Haltung genähert. Die Protagonisten des Films sind zwar überwiegend bis ins Groteske verzerrte Karikaturen, Abziehbilder, die mit traditionellen irischen Klischees spielen, keine ausgefeilt-psychologischen Charaktere. Trotzdem erscheinen Francies Ausbrüche nachvollziehbar.
Der Schlächterbursche ist weniger nüchtern erzählte Sozialstudie als eher anarchistisch anmutende Adoleszenz-Fantasie: ein breit gefächertes Tableau irischer Typen, die alle einen Kern Wahrheit in sich tragen und somit einen durchaus realen Hintergrund abgeben. Jordans forcierte, atemlose Regie verstärkt den Eindruck, den
Der Schlächterbursche beim Zuschauer hinterlässt: eine ausufernde, übersteigerte filmische Groteske, in jeder Szene unterhaltsam, aber nichtsdestotrotz der Wahrheit auf der Spur.
Autor/in: Joachim Kürten, 01.02.1998