Je näher das Millennium rückt, umso diffuser werden die Ängste der Menschen, erobern Katastrophenfilme wie
Independence-Day,
Deep Impact oder
Armageddon die Leinwand. Einen ganz anderen, skeptischen Blick auf die "schöne neue Welt" wirft Andrew Niccols. Seine Zukunftsvision stellt sich als durchorganisierter Orwellscher Staat mit kontrollierter Klassengesellschaft dar: Gesellschaftliche Benachteilung wird nicht mehr von Geschlecht oder Rasse, sondern von der richtigen Gen-Kombination bestimmt. So hat Vincent Freeman, der noch auf natürliche Weise gezeugt und geboren wurde, keine Chancen auf Karriere im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Anton, dem Prototyp eines hochgewachsenen und gesundheitlich optimal ausgerüsteten Retorten-Produkts aus dem Reagenzglas. Aber der kurzsichtige, manchmal kränkelnde junge Mann will sich nicht mit dem ihm zugewiesenen Schicksal abfinden, sondern seinen Traum verwirklichen, als Raumfahrer im gigantischen Gattaca-Konzern zum Titan, dem 14. Mond des Saturn, zu fliegen. Ein DNS-Makler macht aus dem "Invaliden", wie die 'minderwertigen' Spezies mit natürlichen menschlichen Schwächen und Fehlern genannt werden, den akzeptierten 'Designer'-Menschen. Er verschafft ihm die ideale Identität: Jerome, ein "Super-Produkt", durch einen Unfall querschnittsgelähmt, versorgt ihn gegen Bares mit den täglich notwendigen Urin-, Blut- und Haarproben. Bald gehört Vincent, der die ständigen Tests auf Grund der Fremd-Eigenschaften souverän besteht, zu den Auserwählten für den Raketenflug ins All. Doch als sein Chef ermordet wird, bedeutet das zusätzliche Kontrollen; es wird immer schwieriger, der Überwachung zu entgehen. Als man eine echte Wimper von Vincent findet, beginnt die Jagd nach dem "invaliden" Eindringling.
Gattaca ist ein intelligenter und vielschichtiger Science-Fiction-Thriller, der sich wohltuend von den lauten, bunten, primär auf Specialeffekte setzenden Knallbonbons unterscheidet. In kühler Eleganz und düsterer Distanz spielt Niccol in seinem Debütfilm mit Metaphern und Symbolen, inszeniert den Horror des unmenschlichen Perfektionismus perfekt. Parallelen lassen sich ziehen zur Nazi-Ideologie des "Übermenschen" und des "unwerten Lebens".
Gattaca repräsentiert eine Welt des Totalitarismus mit einem uniformen Menschenbild, das jegliche Individualität bei der Elite untersagt und vernichtet. Der gebürtige Neuseeländer, der auch das Drehbuch schrieb, entwirft ein erschreckendes und zugleich wirklichkeitsnahes Szenario – Klon-Schaf Dolly lässt grüßen. Der genetische Fingerabdruck ist Realität, Gen-Chips können schon jetzt schädliches Erbgut schnell aufdecken. Gleichzeitig antizipiert Niccol auch eine Entwicklung, die durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Denn schon bald sollen Forscher durch Genmanipulationen Erbkrankheiten eliminieren (oder neue schaffen?), Lebenszeit verkürzen oder verlängern, vielleicht sogar die Persönlichkeitsstruktur verändern können. Am Beispiel seiner Protagonisten beschreibt er die dem Menschen immanente Sehnsucht nach Vollkommenheit, aber auch die daraus folgenden emotionalen Defizite. Vincent weiß um seine spezifischen Vorzüge, nimmt seine Benachteiligung nicht klaglos hin, sondern schlägt das System mit dessen eigenen Waffen, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Für sein Ziel nimmt er bewusst Schmerz (er lässt sich um einige Zentimeter auf die Größe seines 'Spenders' strecken) und zeitweisen Identitätsverlust in Kauf. Seine Arbeitskollegin und Freundin, eine "Taugliche" mit kleiner Herzschwäche, leidet dagegen unter ihrer "Unvollkommenheit" und beugt sich dem Schicksal; sie lernt erst durch Vincent sich selbst und die Macht der Subversion schätzen.
"Ich habe diesen Film nicht gemacht, damit ihn sich jemand anschaut und dann denkt, dass man auf keinen Fall die Gene manipulieren darf. Aus der Gen-Forschung sind nämlich bereits viele positive Ergebnisse hervorgegangen und werden in Zukunft noch mehr hervorgehen, wenn man zum Beispiel an bisher unheilbare Krankheiten denkt. Das Problem liegt auf der unklaren Trennungslinie zwischen Gesundheit und Bereicherung des Menschen. Wie weit möchte man gehen? Ist Kurzsichtigkeit zum Beispiel schon eine Krankheit? Wie steht es mit frühzeitigem Haarausfall? Was ist mit schräg stehenden Zähnen? Wo zieht man die Grenzen?" (Regisseur Andrew Niccol)
Der Regisseur wirft Fragen nach Ethik und Moral der neuen Gentechnologie auf, ohne die Forschung undifferenziert zu verdammen. Aber mit dem, was er nur ansatzweise ahnen lässt, löst er Nachdenken beim Betrachter aus, macht ihn auch zum Komplizen des Kampfes David gegen Goliath.
Gattaca ist ein formal faszinierender Trip ins neue Jahrtausend und beeindruckt durch das klare Produktionsdesign von Jan Roehlfs, sein akribisches Kostümdesign, wie beispielsweise die mit Blut gefüllten Fingerkuppen-Prothesen Vincents für die Überprüfungen, sowie durch die Kamera von Slawomir Idziak. Der Film macht aus dem Traum von der Beherrschung der Welt durch den Homo Sapiens einen Albtraum. Dennoch gibt es so etwas wie Hoffnung. Denn anhand seiner Hauptfigur beweist Niccol, dass menschlicher Geist und Wille sowie individuelle Kreativität sich gegen von oben verordnete Konformität durchsetzen können, dass in der so genannten 'Schwäche' der Menschen auch ihre Stärke liegt.
Autor/in: Margret Köhler, 01.07.1998