Familiengeheimnisse
Meistens wird über tiefgreifende Kränkungen, Verletzungen und Enttäuschungen im familiären Zusammenleben geschwiegen – umso nachhaltiger, je massiver sie sind und je unabänderlicher die Situation zu sein scheint. Denn Familie ist der Traum von emotionaler Erfüllung, intimem Schutzraum, individueller Persönlichkeitsentfaltung und harmonischem Aufgehobensein. Die bürgerliche Familie der Neuzeit als Hort der Privatsphäre ist allerdings alles andere als ein herrschaftsfreier Raum jenseits der Machtverhältnisse gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Es ist auch ein Verdienst der Frauenbewegung, diese Illusion enttarnt zu haben. Und dennoch: Vergewaltigung in der Ehe ist in der Bundesrepublik erst vor kurzem strafbar geworden, Prügelstrafe in der Erziehung gem. § 1631 BGB bis heute rechtmäßig.
Geheimnisse, d. h. Unausgesprochenes und Verschwiegenes gibt es in jeder Familie – im Guten wie im Schlechten. Im Guten kann Verschwiegenheit einen Schutz von Intimität und Privatsphäre bedeuten und konstitutiv sein für die Entfaltung von Persönlichkeit und Individualität. Insofern gibt es "konstruktive Geheimnisse", wozu individuelle Abgrenzungsmöglichkeiten und Respekt vor persönlicher Intimsphäre zählen oder auch Generationsgeheimnisse, d. h. Dinge, die Eltern gegenüber ihren Kindern für sich behalten und umgekehrt. Im Schlechten geht das Verbergen von unliebsamen Wahrheiten meist mit erheblichen Einschränkungen der Entwicklung der Persönlichkeit einher. Furcht, Angst, Scham und Versagensängste beeinträchtigen die unmittelbaren Beziehungen. Die Aufrechterhaltung der Fassade führt zu emotionaler Distanzierung und Vereinsamung. Die dunklen Geheimnisse betreffen meist Verletzungen gesellschaftlicher Normen und Tabus oder höchst schmerzliche Ereignisse. So stellen Themen wie beispielsweise Ehebruch, nichteheliche Schwangerschaft, Abtreibung, Adoption, Vergewaltigung, psychische Krankheiten, Alkoholismus, Suizid, Kriegstraumata usw. häufig delikate Geheimnisse dar, die zu offenbaren oder über die zu reden alles andere als selbstverständlich ist. So sehr derartige Dinge allerdings auch verheimlicht werden: Fast immer gibt es ein nichtoffenbartes Wissen um sie, das belastet, einschränkend prägt und über Generationen tradiert wird.
Besonders destruktiv wirken familiäre Geheimnisse, die sich auf Verletzungen der Integrität und Intimsphäre von Familienmitgliedern durch sexuelle Gewalt- und Machtausübung beziehen. Lüge und Geheimhaltung dienen dabei zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse. Der Mächtige verfügt über Mittel einzuschüchtern. Wer machtlos ist, schweigt beschämt. Kinder sind derartigen Grenzverletzungen in besonderer Weise ausgeliefert, weil sie in ihrer Entwicklung völlig abhängig und angewiesen auf die Integrität ihrer unmittelbaren Bezugspersonen sind. Ihr Aufbau stabiler Ich-Grenzen bzw. ihre Entwicklung individueller Autonomie erfordert einen Schutzraum, in dem Vertrauen, Fürsorge, klare und gerechte Grenzen gewährleistet sind. Werden diese elementaren Bedürfnisse verletzt, sind Kinder Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Angst und ohnmächtiger Wut ausgeliefert, die zu einer tiefen Verletzung ihres Selbst führen. Schmerz, Trauer und Enttäuschung werden überdeckt von Furcht vor Bloßstellung und familiärer bzw. Selbstauflösung. Scham- und Schuldgefühle prägen ihr Gefühl von Grenzenlosigkeit und Unzulänglichkeit nach außen und innen. Je größer die Abhängigkeit, umso größer ist die Loyalität gegenüber den kränkenden Geheimnissen: Der Zwang zur Geheimhaltung absorbiert einen Großteil der Lebensenergien. Sich die Wahrheit einzugestehen, bedeutet Hochverrat und unendlichen Schmerz.
Autor/in: Cordula Stucke (Kinderschutzzentrum Hamburg), 11.12.2006