Einführung
Fassaden des Glücks
Das Glück entspricht einem menschlichen Idealzustand. Es ist privat und gesellschaftlich gesehen ein Indikator für sinnerfülltes Leben, gelungene Beziehungen, intakte Familienstrukturen. Glück ist aber sehr individuell und auch kulturell bestimmt und lässt sich nicht allgemeinverbindlich definieren. Persönliches Glück steht immer in Wechselbeziehung zu gesell-schaftlichen Entwicklungen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Es kommt aber auch darauf an, wie der Einzelne mit seinem Glück (oder Unglück) umgeht. Grundstrukturen zur individuellen Glücksfähigkeit werden bereits in der Familie gelegt, in der primären Sozialisation durch Kommunikationsstrukturen, aber auch durch Machtverhältnisse.
In westlichen Gesellschaften gehört es mittlerweile zum guten Ton, sich glücklich zu fühlen, eine wahre Bücherschwemme gibt hierzu entsprechende Anregungen. Im Gegensatz zu früher gilt es inzwischen nicht mehr als Tabu, öffentlich über eigene Probleme zu sprechen, etwa in Talkshows, in denen es häufig um Familienkonflikte geht. Abgesehen von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit dieser öffentlichen Bekenntnisse geht es in solchen Shows jedoch selten um eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Betroffenen, die sich nach der Sendung oft alleingelassen fühlen. Meistens jedoch werden 'Familiengeheimnisse' streng gehütet, nach außen hin lieber eine Fassade des Glücks errichtet, hinter der es ganz anders aussieht. Wenn beispielsweise die Kommunikationsstrukturen in einer Familie nachhaltig gestört sind, kann die Aufrechterhaltung einer solchen Fassade wichtiger werden, als die Beseitigung des Konflikts. Das verringert die Chance für persönliches Glück, macht es mitunter sogar unmöglich, denn dieses ist auch abhängig von Beziehungen zu anderen.
Da jeder Mensch nach Glück strebt, will das Publikum in einem Kinofilm vorzugsweise gelungene Formen des Glücks (nach)erleben. Hieraus erklärt sich das weit verbreitete Bedürfnis nach einem "happy end". Oder es möchte wenigstens die 'kathartische' Macht des Vergleichs und der Erkenntnis spüren, wenn Menschen hart um ihr Glück kämpfen müssen bzw. an ihrem (Fehl-)Verhalten Mechanismen des Unglücks wie in einem Brennglas verdeutlicht werden. Darum geht es in den Filmen dieser Themenausgabe.
In seiner bitterbösen Farce Sitcom schildert der junge französische Filmemacher François Ozon ohne Rücksicht auf den guten Geschmack provokativ den Niedergang einer Familie, hinter deren Fassade sich ein Abgrund aus niederen Instinkten und sexuellen Perversionen auftut. – Realitätsnäher wirkt Happiness von Todd Solondz, in dem drei Schwestern nebst männlichem Anhang dem Glück hinterherjagen und am Ende erkennen müssen, dass sich hinter der Fassade des vermeintlich geordneten und erfolgreichen Lebens unerfüllte Sehnsüchte, Selbstbetrug, sexuelle Verwirrungen und Schlimmeres verbergen. – Um die Brüchigkeit familiärer Strukturen geht es auch in Das Fest von Thomas Vinterberg. Zum 60. Geburtstag eines wohlhabenden Patriarchen beschuldigt einer der beiden Söhne den Jubilar vor allen Gästen, ihn und seine Geschwister in der Kindheit sexuell missbraucht zu haben.
Autor/in: Holger Twele, 11.12.2006