Katastrophenfamilien: Die Daily Soap
Eine "sitcom" ist eine Fernsehsendung, in der ein Vater seine Tochter missbraucht, wozu sich das Publikum sich in eingespielten Lachern köstlich amüsiert. So zynisch hat Oliver Stone die unterhaltsame TV-Gattung in seinem Spielfilm Natural Born Killers charakterisiert. Der Begriff "sitcom" lässt sich auflösen in "Situation Comedy". Familiäre Situationen, durchaus auch potenziell krisenhafte, werden auf die Pointe gebracht und einfach weggelacht, anstatt gelöst. Die "sitcom" ist eine amerikanische Erfindung, musterhaft verkörpert durch die unendliche Bill Cosby Show. Erfolgreiche deutsche Versuche mit dem Genre liegen einige Zeit zurück und standen stets in der Tradition von Nonsens und Satire. Markante Titel waren Klimbim und Ein Herz und eine Seele, die kulthaften Szenen um Ekel Alfred, die in der Familie eine kleinbürgerliche Vorhölle entdeckten.
Dass man es sich in Europa mit der definitorischen Trennschärfe ein wenig leicht macht, belegt François Ozons makabrer Spielfilm um einen Familien-Totentanz, dem der Titel Sitcom gegeben wurde. Die zur Groteske gehäuften Probleme wie Homosexualität, Lebensüberdruß und inzestuöse Lust in der Familie sind tatsächlich einer anderen Fernsehgattung entliehen, der "daily soap", der täglich gesendeten Seifenoper. Unter Titeln wie Verbotene Liebe, Marienhof oder Gute Zeiten, schlechte Zeiten kommt es zu quasi suchtabhängigen Gemeindebildungen vor dem Bildschirm. Man versammelt sich, um die schauerlichen Schicksalswendungen, Beziehungsverwirrungen und Gefühlsumstürze mitzuerleben, denen die Protagonisten solcher Serien unentwegt ausgesetzt sind. Gerade die deutsche TV-Soap ist eine atemlose Mischung aus den eher fröhlichen Verstrickungen der frühen Fernsehfamilien à la Schöllermann und Hesselbach und den herzlosen Intrigen amerikanischer Business-Dynastien aus Dallas oder Denver. Die erfolgreichste und langwierigste Lebens-Gemeinschaft trifft sich auf der deutschen Mattscheibe allerdings nur einmal in der Woche, jeden Sonntag in der Lindenstraße mit jeder nur denkbaren Variationsmöglichkeit von Glück und Unglück zwischen Menschen.
In den Lebens-Gemeinschaften einer "daily soap" ist die Katastrophe Familienmitglied, und das Glück ist ein gefährdeter Zustand, denn die Katastrophe ist strukturell. Ein Paar, dem es immer gut geht, Kinder, die nicht durch Schänder, Depressionen, Unfalltod oder entstellende Krankheiten bedroht sind – in dieser Gattung wären sie unglaubwürdige Fremdkörper. Insofern ist die "daily soap" tatsächlich realistischer als die Familienserie der 50er und 60er Jahre. Damals wurde die Funktionsfähigkeit der bürgerlichen Familie entgegen ihren tatsächlichen Auflösungserscheinungen nicht in Frage gestellt. Statt Katastrophen wurden Turbulenzen vorgeführt, an deren Ende sich der wieder 'geheilte' Familienkreis zum Versöhnungsmahl zusammenfand. Die Krise wurde erst in der späten Serie Die Unverbesserlichen zum Thema. Heute sieht es so aus, als wären die Soap-Familien in so große Heillosigkeit gestürzt, dass fast jeder Zuschauer seine krisenhafte Realsituation als sicheres Refugium begreifen kann. Andererseits reagieren die Seifenopern auf die soziale Zersplitterung, indem sie alle möglichen Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Diskussion stellen. Die "sitcom" dagegen rettet das konservative Familienbild meistens im Witz – und manchmal auch als Witz.
Es wäre allerdings falsch, die Krisenhaftigkeit der "daily soaps" als Ausweis ihrer Lebensnähe zu verstehen. Gerade die Serialität der Katastrophen entrückt sie wieder in die Exotik der Unterhaltung. Sie haben vor allem Cliffhanger-Funktion, halten das Publikum bei der Stange, lenken dessen Diskussion aber höchstens auf das Schicksal der vermarkteten Serien-Stars, nicht jedoch auf die Beziehungskonflikte der Wirklichkeit. Außerdem hat Klaus Theweleit in seinem jüngsten Buch "Ghosts" festgestellt, dass die Seriellen die ersten Leute sind, "die der Satz, dass alles keinen Sinn hat, nicht mehr aufregt, die damit völlig einverstanden sind." Sekundensinn entsteht höchstens im Konsum der Serie – egal welche Konflikte und Konfliktlösungsmodelle dort verhandelt werden.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 11.12.2006