Dass das, was wir Zivilisation nennen, nur ein dünner Firnis sei, gilt heute als ausgemacht. Die maßlosen Gewalttaten des 20. Jahrhunderts scheinen endgültig bestätigt zu haben, dass unter der Decke von Sitte, Erziehung und Moral der Abgrund einer menschlichen Natur lauert, für die der Satz des englischen Philosophen Thomas Hobbes die treffende Beschreibung liefert: "Der Mensch ist des Menschen Wolf". Um so drängender stellt sich die Frage, wie es zu solchen Rückfällen in die Barbarei kommen kann und wie sie sich möglicherweise doch verhindern lassen. Dieses Verhältnis von kultureller Ordnung und Barbarei steht im Mittelpunkt von Oliver Hirschbiegels Thriller
Das Experiment. Ausgehend vom berühmten historischen "Stanford Prison Experiment" von Philip Zimbardo aus dem Jahr 1971 und dessen Bearbeitung in Mario Giordanos Roman "Black Box" beschreibt sein Film die fatale Eigendynamik von sozialen Gruppenbildungen und Rollenzwängen.
Ein illustres Forschungsprojekt
Als positive Identifikationsfigur des Zuschauers fungiert der Journalist Tarek Fahd. Er reagiert auf eine Zeitungsanzeige, in der Versuchspersonen für ein nicht näher definiertes Forschungsprojekt gesucht werden. Als einer unter 24 Männern wird er angenommen. Nach dem Zufallsprinzip in Gefangene und Wärter unterteilt sollen sie zwei Wochen lang in dem als Gefängnis umgebauten und mit Überwachungskameras und Mikrophonen versehenen Keller der Universität hausen: die Gefangenen unter drastisch eingeschränkten Bedingungen, in Zellen eingepfercht, mit nur einem sackartigen Hemd bekleidet, die Wärter ausgerüstet mit Handschellen, Schlagstöcken und dem Auftrag, "alles Nötige" für einen reibungslosen Ablauf des Gefängnisbetriebes zu unternehmen.
Disziplin und Gehorsam
Bereits nach kurzer Zeit eskaliert das Experiment "Wärter" und "Gefangene" finden sich schnell in ihre sozialen Rollen ein, gehen ganz in ihnen auf. Während die Wärter ihre absolute Macht zur gnadenlosen Disziplinierung der Gefangenen ausnutzen und dabei auch vor willkürlichen Überschreitungen der von den Versuchsleitern vorgegebenen Richtlinien nicht zurückscheuen, reagiert die Mehrzahl der Gefangenen mit vorauseilendem Gehorsam. Auf die Rebellionsversuche der Minderheit, die sich der Haftordnung nicht fügen kann oder will und von dem Journalisten Tarek angeführt wird, reagieren die Wärter mit unerwarteter Härte: Gefangene werden vor aller Augen gedemütigt und gegen die schweigende Mehrheit ausgespielt.
Sadismus und Gewalt
Besonders einer der Wärter, der zunächst unscheinbare Berus, entwickelt besonderen Eifer und entpuppt sich als Sadist und Gewaltbereiter. Ihm zur Seite steht quasi als proletarischer Helfershelfer der zunächst als leutseliger Elvis-Fan eingeführte Eckert, hinter dem bald ein nicht minder gewalttätiger, auch vor Vergewaltigung nicht zurückschreckender Folterknecht sichtbar wird. Der Rest der Wärter erweist sich als Mitläufer, die nach anfänglichem Zögern den brutalen Rädelsführern nichts entgegenzusetzen haben. Bei diesem Geschehen bieten sich Assoziationen zu faschistischen Strukturen an, zu Gefängnissituationen unter Diktaturen, im Extremfall zur Situation in Konzentrationslagern – sie sind vom Regisseur beabsichtigt.
Faszinierende ästhetische Umsetzung
Dem mehrfachen Grimme-Preisträger Hirschbiegel gelingt es in seinem ersten Kinofilm, einer trockenen, sehr künstlich erscheinenden Ausgangssituation dramaturgische Kraft abzugewinnen. Zwar spielt fast der ganze Film in den Versuchsräumen, die in Zellen und Wärterzimmer aufgeteilt sind, zwar fehlen klassisch "filmische" Elemente – große Räume, Wechsel der Handlungsorte, Zeitsprünge, längere Passagen ohne Dialoge – fast völlig, doch tut dies der Wirkung keinen Abbruch: Mit Konsequenz und Einfallsreichtum umgesetzt, ist
Das Experiment ein intensiver Psycho-Thriller, der den Zuschauer im Laufe der Handlung immer stärker in seinen Bann zieht. Dazu trägt auch die Ästhetik des Films bei: Klare, aber pastellig-matte Farben, manchmal an der Grenze zur Künstlichkeit (und damit die sterile Atmosphäre des Versuchslabors noch verstärkend), schnelle Tempowechsel und eine ruhig-reduzierte, zeichenhafte Figureninszenierung fern aller überkandidelten Hektik. Daneben lebt der Film von großartigen Schauspielerleistungen. Neben Moritz Bleibtreu in der Titelrolle und einem beeindruckenden Christian Berkel, der als sein Zellennachbar Steinhoff das einzig aktive Element in der schnell eingeschüchterten Gefangenenschar darstellt, sticht vor allem Justus von Dohnanyi als Berus hervor und wird zu der Entdeckung des Films. Einen so schmierig-ekelhaften, in jeder Faser unsympathischen Bösewicht, ohne allen Mephisto-Charme hat es im deutschen Film lange nicht gegeben.
Realität und Fiktion
Der Regisseur hat die Romanvorlage wieder stärker dem realen Experiment von 1971 angenähert, sich zu bestimmten Szenen und Gestaltungselementen sogar durch ausgiebiges Studium der in Gesamtlänge vorliegenden Videoaufzeichnungen des "Stanford Prison Experiments" inspirieren lassen. Das Resultat lässt sich auch als clevere Reflexion oder als kalkulierte Übertreibung der alltäglichen Überwachungsverhältnisse lesen, die unsere Welt in ein Bentham’sches Panoptikum (ursprünglich als "ideales Gefängnis" ersonnen) zu verwandeln scheinen. Hunderte von Videokameras und andere Sicherheitseinrichtungen machen fast unsere gesamten Lebensverhältnisse potenziell durchschau- und kontrollierbar und lassen uns zugleich am Abend vor dem Fernseher zum freiwilligen Wärter jener Gefangenen des "Big Brother" werden.
"Unrechtes" Rechtsempfinden
Indem das Innerste, Verborgene der Charaktere nach Außen gekehrt wird, beschreibt der Film mehr als nur eine außer Kontrolle geratene Natur. Neben dem Verlust von Hemmungen in Situationen, in denen der Einzelne starke oder absolute Macht über andere ausüben kann und angelernte, "zivilisatorische" Hemmungen abstreift, führt Hirschbiegel auch etwas anderes vor: ein sozialpsychologisches Zusammenspiel, das gerade auch in vermeintlich geordneten Verhältnissen wirksam wird. Denn alle, die hier Unrecht tun, haben subjektiv lange Zeit das Gefühl, dass sie moralisch korrekt handeln, dass sie "nur der Aufrechterhaltung der Ordnung dienen". Von "struktureller Dummheit" spricht der Philosoph Jürgen Habermas im Zusammenhang mit der Beobachtung, dass in Strukturen ab einer bestimmten Größe der Einzelne seine Fähigkeit verliert, seinen "gesunden" Menschenverstand anzuwenden. Genau diesen Verlust von moralischer Haltung und Zivilcourage zeigt Hirschbiegels Film. Dem Zuschauer könnte nichts Besseres passieren:
Das Experiment macht ihm seine Anfälligkeit bewusst, die innere Unsicherheit, die es jedes Mal wieder zu einem kleinen Wunder macht, wenn einer, der nur das Gute will, nicht doch das Böse schafft.
Autor/in: Rüdiger Suchsland, 01.03.2001