Zu Anfang des Films kann Karen McCann nicht einmal einem Falter etwas zu Leide tun. Das harmlose Insekt, das im Zimmer ihrer kleinen Tochter schwirrt und das sie töten soll, fasst sie ganz vorsichtig an den Flügeln und lässt es frei. Am Ende des Films maßt sich diese Frau das Recht an zu töten und erschießt gezielt einen Menschen. Was ist geschehen? Warum entwickelt sich eine sanftmütige Frau zur modernen Rächerin?
Karen hat durch ein Gewaltverbrechen ihre 17-jährige Tochter Julie verloren. Und sie wurde Zeugin der brutalen Tat. Als sie in der Rush-hour feststeckt und zuhause anruft, muss sie entsetzt mithören, wie ihre Tochter Julie vergewaltigt und getötet wird. Robert Doob, der Verdächtige, muss wegen eines Formfehlers wieder freigelassen werden. Karen ist fassungslos und will Vergeltung. Wie besessen beginnt sie dem Täter nachzuspionieren. Ihr Hass steigert sich, als Doob ein zweites Mal zuschlägt und wieder nicht verurteilt werden kann. Sie nimmt Waffenunterricht, übt Selbstverteidigung. Als Doob in ihr Heim einbricht, streckt sie ihn mit drei Schüssen nieder. Ein klarer Fall von Notwehr? Karen hat den Täter quasi eingeladen. Sie drang in Doobs Zimmer ein, durchwühlte seine Sachen und ließ – bewusst oder unbewusst – ihre Baseballkappe liegen.
Regisseur John Schlesinger stellt sich ausschließlich auf die Seite der Opfer und appelliert an das Mitgefühl und vor allem an die Empörung des Zuschauers. Das Leid der Betroffenen ist groß, die Polizei und Justiz sind – in diesem Fall – machtlos, der Täter Doob ist schmierig, arrogant und dumm. Da scheint Selbsthilfe, Selbstjustiz die einzige Lösung. Auch Titel und Plakat des umstrittenen Rachedramas suggerieren diese Botschaft: "Was würden Sie tun, wenn die Justiz versagt?" Die Waffe, die Sally Field dem Betrachter entgegenstreckt, lässt keinen Zweifel. Ob die Justiz wirklich versagt hat, wird nicht diskutiert. Dass Verdächtige trotz belastender Indizien nicht verurteilt werden, dass Schuldige ihrer Strafe entgehen, dass Verfahrensfehler gemacht werden, kommt in Amerika – und in anderen demokratischen Ländern – vor; aber das rechtfertigt keine Selbstjustiz.
Autor/in: Angela Leifeld, 01.04.1996