Eine erlösende Diagnose beim Arzt scheint Zohras Leben eine neue Wendung zu geben: Ihr lebenslanges Rückenleiden wurde behoben, die komplizierten Operationen waren erfolgreich. Doch das Glück wird für die Algerierin auf brutale Weise zum Bumerang: Nach dem Ende der Behandlung sieht der französische Staat keinen Grund mehr für ihre Aufenthaltsgenehmigung. Mit ihr erlischt Zohras gesamte Teilhabe an einer Gesellschaft, in der sie sich wohlfühlt. Sie hat Arbeit, viele soziale Kontakte und ein fast schon sonniges Gemüt. Eben noch wollte sie ihren Mann nachholen, um sich inmitten vieler Verwandter etwas Neues aufzubauen. Nun sieht sie sich ihrer Existenz beraubt aufgrund von Regeln, über die andere bestimmen. Von einem besseren Leben kann sie nur noch träumen.
Zohras Leben im Banlieue einer
französischen Kleinstadt ist nicht spektakulär, aber abwechslungsreich. In langen unbewegten, exakt gerahmten Einstellungen zeigt der Film ihre täglichen Wege zwischen Krankenhaus, der Arbeit in einer Kleiderspendensammlung und der Familie ihrer Schwester, um deren Kinder sie sich kümmert. Nach der niederschmetternden Bestätigung ihres erloschenen Aufenthaltsstatus auf dem Amt greift die Regie zu einem unvermuteten filmischen Kniff: Zohra wird vorübergehend unsichtbar und auch unhörbar. Die Reaktionen ihrer Mitmenschen bescheinigen weiterhin ihre Existenz, ohne dass sie noch ins Geschehen eingreifen könnte. Praktisch im Moment, da man diesen erzählerischen Bruch als Bild ihrer verlorenen Selbstwahrnehmung – einem Alptraum nicht unähnlich – realisiert, erfolgt schon der nächste Perspektivwechsel: Nun ist nur noch Zohra sichtbar, die begonnen hat, sich eine eigene Welt zu schaffen. In der Fantasie gelingt ihr das erwünschte Leben, das ihr die äußeren Umstände versagen.
Der deutsche Regisseur Philip Scheffner ist vor allem bekannt für seine minutiösen Rekonstruktionen von Schicksalen Geflüchteter. Sein erster Spielfilm, den er als "erzwungene Fiktionalisierung" bezeichnet, behält die dokumentarische Perspektive bei und stellt auch ähnliche Fragen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Wieviel Fiktion steckt in unserer Ordnung des öffentlichen Raums, der Auswahl seiner Teilnehmer/-innen und damit auch in den selten hinterfragten Konzepten von Nationalstaat und Staatsbürgerschaft? Über diese komplexe politische Dimension hinaus inspiriert der Film aber auch grundsätzliche ästhetische Überlegungen zum kinematografischen Sehen: Die Nicht-Sichtbarkeit erwirkt einerseits die totale Identifikation mit der Hauptfigur, widerspricht andererseits aber eklatant unseren Sehgewohnheiten. Für die glänzende Hauptdarstellerin Rhim Ibrir war diese Identifikation unausweichlich: Die Algerierin, der Scheffner bei den Dreharbeiten zu seinem Film
Havarie (2016) begegnete, spielt hier Teile ihres eigenen Lebens.
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Philipp Bühler, 01.03.2022, Vision Kino 2022.
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