Einer geht der Herde entgegen. Zwischen den Schafen bricht er zusammen. Sie sind ihm nur ausgewichen. Die Richtung ändern sie nicht. Das ist eine der Erinnerungsfetzen, Traumszenen, die Checkos Geschichte durchschießen. Checko kommt aus den Städten zurück in seine Allgäuer Heimat. Er will nach seinem Großvater Felix schauen, der jetzt alleine lebt – ein Eigenbrötler, ein Eingemauerter, wie es einmal heißt. Der alte und der junge Mann machen sich auf eine Reise. Felix sucht nach der Geschichte, nach der Historie, aber auch nach der Geschichte seines Freundes Anton, mit dem er im Dritten Reich Flugblätter gegen das Mörderregime verteilte, mit dem er auch die Freundin teilte. Zusammen wollten sie in die Schweiz fliehen. Doch Anton wurde nach Berlin geschafft und mit dem Tod bestraft. Das ist die Ebene der Erinnerung, die Ebene visionärer Schneebilder, verzögerter Bewegungen – Sequenzen oft ohne Ton, ein Albtraum vielleicht. Erwin Michelberger erzählt Geschichte als Traum; das ist dem Geschichtsbild der Romantik nachempfunden.
Traumstreuner ist ein zutiefst romantischer Film, wenn auch spröde gemacht durch seine fragmentarische Form. Es wird keine lückenlos einsichtige Handlung entwickelt, Brüche bleiben. Der Zuschauer ist zum Mitdenken aufgefordert. Da es um Romantik geht, zeigt Michelberger keine Annäherung zwischen den Generationen, die über das reine Begreifen funktioniert. Checko, der Junge von heute mit den Rastalocken und der Sammlung von aufgestöberten Gedichten, lernt es nicht, seinen Großvater zu verstehen und dessen neurotisches Verhalten aus der Vergangenheit zu erklären. Er wird vielmehr auf nahezu metaphysische Weise dazu gebracht, die Geschichte des alten Mannes zu wiederholen und zu vollenden. Felix hat das Kind von Anton, Checkos Mutter, als seines aufgezogen. Auch Anna, die Checko liebt und zeitweise mit den beiden Männern unterwegs ist, wird von einem anderen ein Kind bekommen. Dreieckskonstellationen in den vierziger und in den neunziger Jahren; die Personen werden von den gleichen Darstellern gespielt. Ganz im Sinne der Romantik findet die Liebe in der Natur unter einem großen Mond statt, und die Kunst, das künstlerische Gestalten wird als Rettung aus den Zwängen von Vergangenheit und Gegenwart verstanden: Felix und sein Enkel bauen eine sinnlose Maschine fertig. Das treibt das Gift aus dem Hirn, sagt der Alte. Seine Herztabletten wirft er weg und bereitwillig nimmt er den Tod an.
Traumstreuner ist beinahe ein frommer Film, obwohl Checko gleich am Anfang einen Spruch gegen Gott sprayt. Er handelt von Aufgabe und Berufung, er versucht Poesie. Er macht jedoch – schon durch sein langsames Tempo – darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, gegen die Richtung der Herde zu laufen und nicht mitzumaulen, wenn alle maulen. Mit sperriger Geduld und artifizieller Inszenierung (auch der Tonspur) formuliert Michelberger die Botschaft – eine wirkliche Botschaft! – die für alle Generationen gilt: Sand statt Öl sein im Getriebe der Welt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.11.1996