Hintergrund
Die Frage nach dem "Warum?" – Die Darstellung jugendlicher Gewalt im Film
Jugendgewalt ist nicht erst seit dem Amoklauf von Winnenden ein ständig wiederkehrender öffentlicher Diskussionsstoff. Doch Filme, die sich jenseits des Genres juveniler Gangsterdramen des Themas annehmen, gibt es eher wenige. Nun läuft mit
Boy A (John Crowley, GB 2007)
Boy A
ein britisches Jugenddrama an, in dessen Zentrum ein grausamer Mord steht, der indes nicht gezeigt wird. Der Regisseur durchbricht die Chronologie der Handlung in der Gegenwart – die erfolgreiche Resozialisierung des jungen Protagonisten Jack nach 12-jähriger Sicherheitsverwahrung und Haft – mit
Rückblenden, in denen er die Zuschauenden schrittweise an die Tat heranführt: Zwei Zwölfjährige töten eine Gleichaltrige mit einem Teppichmesser. Doch ins Bild gesetzt wird nur der Beginn des mörderischen Aktes. Zuvor aber erlebt man, wie die beiden Jungen sadistisch einen Aal erschlagen. Der Effekt dieser indirekten Darstellung ist verstörend: Gefangen zwischen der längst erfolgten Identifizierung mit dem sympathischen jungen Mann und der allmählichen Enthüllung seines Verbrechens wird das Publikum in ein Wechselbad aus Empathie und Entsetzen gestürzt.
Demonstrierte Kaltblütigkeit
Gus van Sants umstrittenes Highschool-Drama
Elephant (USA 2003) greift das Schulmassaker von Littleton an der Columbine Highschool auf. Wie
Boy A verweigert sich der Film anfänglich einer voyeuristischen
Elephant
Gewaltdarstellung, indem er die lineare Abfolge zugunsten einer geradezu meditativen Betrachtung des Schulalltags bricht. Van Sant porträtiert eine Handvoll Schüler/innen, die er aus verschiedenen Blickwinkeln einkreist, darunter auch die beiden Täter. Am Ende verzichtet er jedoch nicht auf Szenen regelrechter Hinrichtungen mit der Pumpgun, von coolen Sprüchen begleitet. Ob die letztlich demonstrierte Kaltblütigkeit der Mörder der Wahrheit entspricht, bleibt ebenso offen wie die Ursache ihrer Tat: Der Film zitiert zwar gängige Erklärungen für die aktuelle Jugendgewalt – beispielsweise die Vorliebe der Täter für gewaltverherrlichende Computerspiele und Filme –, aber er erklärt sie nicht, im Gegenteil. Das Spiel mit der Motiv-Verwirrung treibt van Sant am weitesten, wenn er einen der zukünftigen Amokläufer am Klavier Beethovens Mondscheinsonate und danach mit seinem Freund – die beiden sind ein Liebespaar – ein Ego-Shooter-Computerspiel spielen lässt.
Der Akt des Tötens
Krzysztof Kieślowski dagegen zeigt in seinem Klassiker
Ein kurzer Film über das Töten (PL 1988) einen jungen Mann, der einen Taxifahrer mit Hilfe einer Schnur und eines Steins umbringt. Der Film gehört zu Kieślowskis "Dekalog"-Zyklus, in dem er sich mit dem zehn Geboten des Tanach (hebräische Bibel) auseinandersetzt, und repräsentiert das fünfte Gebot: "Du sollst nicht töten". Schon durch ihre quälende Echtzeit-Länge hat die Tötung mit der flüchtigen und oberflächlichen Gewaltdarstellung, wie sie in Actionfilmen üblich ist (und am Ende auch in van Sants Drama stattfindet), nichts gemein. Das Publikum erlebt den Schrecken dieses Mordes mit - ebenfalls erschütternd wirkt später die Verzweiflung des Täters vor Gericht. Schuld und Sühne, Strafe und Vergebung haben in Kiéslowskis Drama eine fast religiöse Dimension. Mit seiner nüchternen und schonungslosen Darstellung der Tötungsakte – am Ende stirbt der Verurteilte durch den Strang – wird die offene Gewaltdarstellung letztlich auch zum erschütternden Appell an die Menschenwürde und für das Leben.
Strukturen eines verrohten Milieus
Boy A oder auch das Berlin-Drama
Knallhart (Detlev Buck, D 2006) zeigen jedoch auch in aller Deutlichkeit die von den Beteiligten als "normale Härte" ertragene alltägliche Gewalt zwischen Heranwachsenden. In
Knallhart wird der 15-jährige Neuankömmling in einer Schule in Neukölln von einer türkischen Gang als "Opfer" und Prügelknabe erpresst und gefoltert.
Knallhart
Eine ähnliche Thematik von Gewalt im "Cliquen-Milieu", allerdings mit tödlichem Ausgang und im ländlichen Umfeld, behandeln die sich zufällig ergänzenden filmischen Aufarbeitungen des Mordes an einem 16-Jährigen in einem brandenburgischen Dorf im Jahr 2002. So zitieren im minimalistischen Theaterfilm
Der Kick (Andres Veiel, D 2006) zwei Schauspieler/innen aus Interviews und Vernehmungsprotokollen mit Beteiligten, Familienmitgliedern und Dorfbewohnern/innen;
Zur falschen Zeit am falschen Ort (D 2005), ein Dokumentarfilm von Tamara Milosevic, liefert zu dem gleichen Thema mittels des Porträts eines der Freunde des Getöteten Bilder des sozialen Umfeldes. Die Filme reflektieren eine Vielzahl von sozialen, auch medialen Einwirkungen – unstreitig ist beispielsweise, dass die Tötungsart vom amerikanischen Drama
American History X (Tony Kaye, USA 1998) inspiriert wurde –, ohne dass sich der Gewaltexzess auf eine konkrete Ursache rückführen, gar erklären ließe. Beiläufig treten die Strukturen eines verrohten Milieus hervor, in dem die Demütigung von Außenseitern/innen und Schwächeren zum "Way of Life" gehört.
Mangelnde Fürsorge und Ersatzväter
Bei der Ursachenforschung zur Jugendgewalt liegt der Focus zunächst auf dem familiären Umfeld. Doch in den genannten Filmen wird dieses nur gestreift. Häufig wird allerdings angedeutet, dass die Väter als männliche Vorbilder im Leben der Jungen keine oder keine unterstützende Rolle spielen:
Der Sohn
Boy A zeigt lediglich die zum Glas greifende Hand des Vaters. Eine bestechend andere Variante bietet das belgische Drama
Der Sohn (Le Fils, Jean-Pierre und Luc Dardenne, F, BE 2002), in dem ein Schreiner in einem Berufsbildungszentrum dem entlassenen Mörder seines kleinen Sohnes wieder begegnet. Der 16-Jährige, der ihn nicht erkennt, adoptiert den wortkargen Lehrmeister instinktiv als Ersatzvater – und der barsche Handwerker, dem der Tod seines Kindes das Herz gebrochen hat, scheint beim gemeinsamen Ausmessen und Hämmern fast selbstverständlich in die vakante Rolle hineinzuwachsen.
Der Sohn zeigt – auch
Boy A deutet es an – dass in mitmenschlicher Interaktion, Arbeit und Verantwortung, kurz: tätiger Nächstenliebe, eine Chance auf Vergebung und Erlösung liegt.
Keine eindimensionalen Erklärungen
In all den gezeigten Filmen sind die Regisseure jedoch darauf bedacht, bei der Veranschaulichung der Täterpersönlichkeiten eine eindimensionale Erklärung des "Warum?" zu vermeiden. Alkohol, Drogen, familiäres Unglück, anerzogene Verantwortungslosigkeit, Kollektivtaten, Neonazi-Ideologie, Arbeitslosigkeit – angetippt wird ein ganzes Bündel möglicher Gründe. Unter ethischen Gesichtspunkten ließe sich allerdings kritisch diskutieren, inwiefern diese Filme, indem sie den Tätern eine Biografie verleihen, diese auch zu Opfern machen und wie gerecht sie damit den eigentlichen Opfern werden. Aber es ist natürlich eine freie künstlerische Entscheidung, welche Perspektive ein Film darstellt, welche Fragen er aufwirft und welche Antworten er geben möchte. Letztlich spiegeln Filme bei aller ästhetischen Differenz auch das mediale und gesellschaftliche Rätselraten über die Gründe der Gewalt wider: Je näher Filme den Tätern/innen kommen wollen, desto näher kommen diese dem Publikum und desto diffuser erscheinen die Ursachen.
Autor/in: Birgit Roschy, Publizistin und Filmkritikerin, 28.04.2009
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