Martha befindet sich auf der Flucht. Als sie völlig verwirrt von ihrer Schwester Lucy an einer Raststätte aufgegriffen wird, reagiert sie abweisend. Lucy und ihr Mann Ted nehmen das Mädchen bei sich auf. Ihr Wochenendhaus am See macht zunächst den Anschein eines Idylls, in dem Martha sich erholen kann. Drei Jahre war sie verschwunden; wo sie die Zeit verbracht hat, verschweigt sie ihrer besorgten Schwester. Erst allmählich löst sich das Geheimnis auf. In
Rückblenden erzählt der Film von ihrer Ankunft in einer Hippie-ähnlichen Landkommune, in der jugendliche Ausreißer nach strengen Regeln miteinander leben. Die schmerzhaften Erinnerungen an diese Zeit und an Patrick, den Anführer der Gemeinschaft, verfolgen Martha bis in das Haus am See.
Regisseur Sean Durkin schildert die traumatischen Erfahrungen des jungen Mädchens als einen bösen Wachtraum, in dem Erinnerungen und Wirklichkeit langsam ineinanderfließen. Das Anwesen am See wirkt wie ein sicheres Refugium, doch der Film zeigt die Durchlässigkeit dieser Idylle, wenn er elegant zwischen den Zeitebenen wechselt, so dass sich auch das Publikum immer wieder neu orientieren muss. Statt die Lebensentwürfe von Kommune und Lucy zu kontrastieren, versucht das Drama zu erkunden, was Martha am Leben in der Sektengemeinschaft gefunden haben mag. Ihre labile Psyche erweist sich jedoch zunehmend als unzuverlässiger Wahrnehmungssensor. Leidet Martha unter Verfolgungswahn oder versucht die Sekte tatsächlich, sie zurückzuholen?
Dass diese Frage bis zum überraschenden Schluss ungeklärt bleibt, macht
Martha Marcy May Marlene zu einer interessanten Fallstudie über einen zutiefst verstörten jungen Menschen. Der Regisseur verzichtet auf psychologische Erklärungsmuster, vielmehr schildert er ganz unmittelbar, welche Auswirkungen ein traumatisches Erlebnis auf die Psyche eines Menschen haben kann. Im Unterricht kann anhand von einzelnen Szenen diskutiert werden, inwiefern sich Marthas Realitätswahrnehmung verändert und welche Funktion die
Rückblenden dabei übernehmen. Auch kann die Frage erörtert werden, ob die Entscheidung, den psychischen Zustand Marthas im Vagen zu halten, der Figur eine größere Komplexität verleiht. Interessant ist darüber hinaus, wie der Regisseur die Beziehung der Jugendlichen untereinander sowie ihr Verhältnis zu Patrick beschreibt. Hier liefert der Film gutes Anschauungsmaterial für eine Analyse von Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb einer Sektengemeinschaft.
Autor/in: Andreas Busche, 05.04.2012
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