Im Licht von Michael Moores bisherigem Filmwerk muss der Titel seines neuesten Films wie blanke Ironie erscheinen. Tatsächlich ist seine Kapitalismuskritik aber die Geschichte einer enttäuschten Liebe. Sie beginnt mit Moores Jugend, den frühen 1960er-Jahren, die der US-amerikanischen Gesellschaft Sicherheit und Wohlstand brachten. Mit den neoliberalen Wirtschaftsreformen Ronald Reagans schlägt die Liebe in Bestürzung um: Für Moore nützt der Kapitalismus seit Reagans Amtsantritt nur noch den Reichen, während die Mittelschicht zusehends verarmt und einfache Arbeiter/innen kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Durch die aktuelle Finanzkrise sieht er sich bestätigt und endet mit der Hoffnung, US-Präsident Barack Obama werde nach dem Vorbild Franklin D. Roosevelts einen neuen New Deal ins Leben rufen.
Michael Moore legt die Definition des
Dokumentarfilms erneut sehr freizügig aus und greift auf eine bunte Stilmixtur zurück: Er lässt Experten/innen und Betroffene in Interviews zu Wort kommen, recherchiert einzelne Schicksale in geradezu klassischer Reportagemanier, spielt aber auch bereitwillig den Agent Provocateur, etwa indem er Bankinstitute mit der Banderole "Crime Scene" zum Tatort eines beispiellosen Wirtschaftsverbrechens erklärt oder ebendort mit einem Geldtransporter vorfährt, um die staatlichen Kredite zurückzufordern. Besonders suggestiv sind Moores
Filmmontagen: Gleich zu Beginn schneidet er aktuelle Bilder der Wall Street in einen alten Lehrfilm über den Niedergang des römischen Reiches, später legt er einem Jesus-Darsteller aus einem Bibelfilm Glaubenssätze der neoliberalen Wirtschaftslehre in den Mund.
Michael Moores satirisch zugespitzte Filme halten in den Detailfragen einer näheren Überprüfung oft nicht stand. Dafür findet der umstrittene Filmemacher jedoch stets zielsicher den neuralgischen Punkt des von ihm dargestellten Themas. Insbesondere zwei im Film aufgeworfene Fragen eignen sich für den Unterricht: Wie sieht die gerechte Verteilung des in einer Volkswirtschaft erzielten Einkommens aus? Und inwiefern bedroht die in den Händen der Privatwirtschaft gesammelte Finanzmacht das Prinzip der Demokratie? In Zusammenhang mit diesen Fragen ließen sich klassische Positionen der Wirtschaftslehre (Stichwort: Nachtwächterstaat versus Wohlfahrtsstaat) oder Fragen nach Einfluss des Lobbyismus auf die Gesetzgebung des Deutschen Bundestags diskutieren.
Autor/in: Michael Kohler, 10.11.2009
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