Die Fabrikarbeiterin Katie lebt mit ihrer Tochter Lisa in einer tristen Hochhaussiedlung. Nur mit Mühe kann sie ihren Alltag bewältigen. Neue Lebenskraft schöpft Katie, als sie sich in ihren Kollegen Paco verliebt, der schon bald bei ihr einzieht. Die Geburt ihres Sohnes Ricky ist die Krönung des gemeinsamen Glücks. Doch schon bald bringt das Baby das fragile Gleichgewicht der Familie durcheinander. Als Katie an Rickys Schulterblättern Blutergüsse entdeckt, unterstellt sie Paco Kindesmisshandlung, der sie daraufhin gekränkt verlässt. Eines Tages entdeckt Katie, dass Ricky aus den verdächtigen Malen Flügel wachsen. Die junge Mutter registriert die anatomische Veränderung ihres Sohns mit Verwunderung, akzeptiert diese Fehlbildung jedoch als eine Besonderheit ihres Kindes. Zugleich weiß sie aber, Rickys Flügel vor der Öffentlichkeit zu verbergen, bis er eines Tages im Supermarkt "flügge" und damit zum Medienereignis wird.
In der ersten Hälfte des Films porträtiert Regisseur François Ozon in realistisch-dokumentarischem Stil eine sozial schwache, dysfunktionale Familie, in der es aber auch Momente der Wärme und Geborgenheit gibt. Mit viel Verständnis für ihre jeweilige Situation werden die authentischen und komplexen Charaktere präsentiert. Die Kameraführung ist dabei unauffällig; Emotionen, etwa durch den Einsatz von
Filmmusik, werden nicht zusätzlich erzeugt. In der Mitte des Films, als Ricky Flügel wachsen, wird aus dem Sozialdrama eine Groteske. Dennoch bleibt Ozon bei einer realistischen Filmsprache, selbst wenn er den Prozess des Flügelwachstums zeigt. Die surrealistischen Elemente finden sich somit ausschließlich auf der narrativen, nicht jedoch auf der filmästhetischen Ebene wieder.
Der eigenwillige Einsatz der erzählerischen Mittel mag irritieren, lässt jedoch auch zahlreiche Lesarten der Geschichte zu: Ist Rickys Anomalität eine Folge von Katies Arbeit in einer Chemiefabrik? Sind seine Flügel die visualisierte Realitätsflucht vor einer tatsächlich stattgefundenen Misshandlung? Sind sie eine Allegorie auf das Loslassen(-Müssen)? Oder ist Ricky gar ein kleiner Engel? So lassen sich etwa im Ethik- und Religionsunterricht diese und weitere Deutungsansätze diskutieren, geht es doch darüber hinaus auch sehr konkret um Andersartigkeit, Kindstod, Trauer und Depressionen. Zudem können in
Ricky eine deutliche Medienkritik sowie die mannigfaltigen Schwierigkeiten, denen eine Familie durch Veränderungen ihrer gewohnten Struktur ausgesetzt ist, herausgearbeitet werden.
Autor/in: Stefanie Zobl, 13.05.2009
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