Ein Umzug verspricht die Chance auf ein neues Leben. Denn in dem neuen Ort weiß niemand, dass die zehnjährige Laure eigentlich ein Mädchen ist. Mit ihren kurzen Haaren und ihrem jungenhaften Gesicht gibt sie sich kurzerhand vor den anderen Kindern in ihrem Viertel als Michael aus, trägt von nun an weite Hosen, spielt Fußball und spuckt lässig wie die Jungen. Geschickt umgeht sie alle Situationen, in denen jemand Zweifel schöpfen könnte, indem sie ihren Badeanzug zur Badehose kürzt und rosafarbene Schnürsenkel durch weiße ersetzt. So überzeugend ist ihr Rollenspiel, dass sich sogar die gleichaltrige Lisa für den vermeintlichen Jungen zu interessieren beginnt.
Die ruhige Stimmung eines heißen Sommers liegt über dem Film von Céline Sciamma, der auf ungewöhnliche Weise von den Veränderungen im Leben eines Mädchens erzählt. Die Zeit um Laure herum scheint still zu stehen, während sie spielerisch Geschlechtergrenzen überschreitet und mit einer anderen Rolle experimentiert. Durch ihre Verkleidung erprobt Laure, wie es sich anfühlt, ein Junge zu sein und als Junge wahrgenommen zu werden – von anderen Jungen und von anderen Mädchen. Während die langen, beiläufigen Beobachtungen sowie der Verzicht auf untermalende
Filmmusik geradezu dokumentarisch wirken, lässt die Regisseurin durch die
Kameraeinstellungen eine große Nähe zu ihrer Protagonistin entstehen und erzählt konsequent aus deren Augenhöhe.
Aufgrund dieser Erzählperspektive und der sensiblen Annäherung an ein intimes und komplexes Thema eignet sich
Tomboy bereits für ältere Kinder ab zehn Jahren vor allem in lebenskundlichen Fächern wie Ethik oder Religion. Charmant führt der Film vor, was als typisch für Jungen und typisch für Mädchen gilt, und macht diese Klischees und künstlichen Zuschreibungen damit umso transparenter. Ob Laure nur mit ihrem Identitätswechsel spielt oder sich tatsächlich im falschen Körper fühlt, bleibt angenehm offen. Sichtbar ist lediglich, dass sie ein "tomboy" ist – ein Mädchen, das sich kleidet und verhält wie ein Junge. Sciammas Film berührt durch seine Stille und Ernsthaftigkeit und gerade auch dadurch, dass er nicht auf Provokation setzt, sondern auf Unschuld.
Autor/in: Stefan Stiletto, 11.10.2011
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Jugend und Sexualität im Film (Dossier vom 10.10.2011)
XXY (Filmbesprechung vom 10.05.2008)
Der kleine Unterschied (Filmbesprechung vom 01.05.1997)
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.