Sie gehen langsam durch die
Straßen von Harlem, Seite an Seite, Hand in Hand. Ihr Gehen ist mehr ein gemeinsames Gleiten, leicht, fast schwerelos. Die Welt um sie herum verschwindet, es gibt nur noch sie: Tish und Fonny.
Wie ein Refrain ziehen sich die schwebenden
Szenen des vorwiegend durch Blicke und Berührungen kommunizierenden Liebespaars durch Barry Jenkins
Beale Street. Es sind Bilder inniger Verbundenheit – "Ich wünsche niemandem, dass er den, den er liebt, durch eine Scheibe anschauen muss", sagt Tish am Anfang des Films aus dem Off. Doch schon kurz darauf trennt die Glasscheibe im Besucherraum eines Gefängnisses den 22-jährigen Bildhauer Fonny (Stephan James) und die 19-jährige Verkäuferin Tish (KiKi Layne).
Eine afroamerikanische Erfahrung
"Die Beale Street ist eine Straße in New Orleans, wo mein Vater, wo Louis Armstrong und der Jazz geboren wurden. Jeder in Amerika geborene Schwarze ist in der Beale Street, ist im Schwarzenviertel irgendeiner amerikanischen Stadt geboren [...]. Die Beale Street ist unser Erbe." So schrieb der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin in einer privaten Notiz über den Titel seines 1974 veröffentlichten Romans "If Beale Street Could Talk" (deutsch: "Beale Street Blues"). Die Notiz wurde der deutschen Neuübersetzung als "Vorbemerkung" hinzugefügt. Und auch Barry Jenkins stellt seiner filmischen
Adaption dieses Zitat voran, in dem sich eine afroamerikanische Erfahrung formuliert. Für Baldwin ist die Straße eine Allegorie, keine konkrete Ortsangabe. Denn tatsächlich liegt die Beale Street in Memphis, Tennessee, einem afroamerikanischen Viertel, das in einem Blues von W. C. Handy besungen wird, dem "Beale Street Blues".
Beale Street, Trailer (© DCM)
Beale Street ist die Geschichte von Tish und Fonny, Freunde und Vertraute seit Kindheitstagen, als junge Erwachsene ein Liebespaar. Voller Hoffnung sehen sie zu Beginn der 1970er-Jahre einer gemeinsamen Zukunft entgegen – bis Fonny durch die Willkür eines weißen Polizisten der Vergewaltigung angeklagt wird. Tish, die schwanger ist, muss das gemeinsame Kind alleine großziehen, ihr Verlobter droht in der Untersuchungshaft zu zerbrechen.
Systemisches Unrecht, das bis heute andauert
Barry Jenkins gelingt das Kunststück, sowohl eine intime, zärtliche Liebesgeschichte zu erzählen als auch ein archetypisches Drama über strukturellen Rassismus. Denn so wie "jede/r Schwarze" in der Beale Street geboren ist, so ist auch die Geschichte von Tish und Fonny in ihrer Beschreibung von Alltagserfahrungen wie Unterdrückung und Diskriminierung die Geschichte "aller" Afroamerikaner/-innen. Dieser – auch institutionelle – Rassismus spiegelt sich nicht zuletzt in den Gefängnisstatistiken wieder: Noch im Jahr 2016 waren 33 Prozent der Insassen in US-amerikanischen Gefängnissen schwarz (bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 12 Prozent). Baldwin nannte das amerikanische Gefängnissystem die Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln – in einem Brief an die Bürgerrechtlerin Angela Davis sprach er über die lange Geschichte der "Ketten auf schwarzem Fleisch".
Beale Street, Szene (© DCM)
Auch wenn Jenkins die Geschichte in einen gesellschaftlichen Zusammenhang bringt, richtet sich sein Blick im Konkreten auf die zwischenmenschlichen Beziehungen: die Liebesbeziehung, die Familie. Starken Rückhalt erfährt Tish von ihrer Mutter Sharon, dem Vater Joseph und ihrer älteren Schwester Ernestine. Sie alle heißen ihr ungeborenes Baby sofort willkommen, anders als Fonnys tiefreligiöse Mutter. Sie verflucht das in "Sünde" entstandene Kind.
Rückblenden, Ellipsen, Zeitsprünge
Wie die Romanvorlage folgt auch der Film Tishs Perspektive. Ihre weiche Off-Stimme führt durch eine Geschichte voller
Ellipsen und Zeitsprünge, in der verschiedene Ebenen virtuos miteinander verwoben werden: Tishs Gefängnisbesuche und die familiären Bemühungen, mit einem Anwalt und eigenen Ermittlungen den Geliebten freizubekommen gehen fließend über in
Rückblenden. Diese erzählen von der behutsamen Annäherung des Paars, dem ersten Sex und, nach einer Reihe von demütigenden Erfahrungen, der schließlich glücklich endenden Wohnungssuche. Auch der rassistische Vorfall, der zu Fonnys Verhaftung führte, wird in der Rückschau gezeigt. In diesen Szenen konturiert Jenkins die Liebe und Freundschaft des Paars, aber auch ihre traditionellen Geschlechterrollen. Als Tish ihren Verlobten gegen den weißen Polizisten verteidigt, sieht er sich in seiner Männlichkeit schwer gekränkt – er will
ihr Beschützer sein! Tish wiederum identifiziert sich mit der Rolle der Mutter und Hausfrau, wenn sie sich auf der Wohnungssuche "ihre" imaginäre Küche einrichtet.
Liebe ist in Beale Street ein Überlebensmechanismus
Zweimal
montiert Jenkins schwarz-weiße Archivfotos von Polizei- und Justizgewalt in die Erzählung. Sie rufen wach, wie sehr die Geschichte in einer konkreten zeithistorischen Realität verankert ist. Sonst aber bricht Jenkins lyrischer Stil wie schon in
Moonlight mit den Konventionen des Realismus. Die traumähnlichen, mitunter hypnotischen – und in ihrer
Farbigkeit ausgesprochen kräftigen – Bilder modulieren intime Atmosphären, in denen sich die Gefühlswelt der Figuren entfaltet. Immer wieder trennt die Kamera das Paar von seiner Umgebung und isoliert sie in
Close-Ups vor
unscharfem Hintergrund. Unterstrichen wird die emotionale Textur des Films von dem dichten
Soundtrack des Filmkomponisten Nicholas Britell, der Streicher und Bläser zu eindringlichen, anschwellenden Klängen fusioniert und Jazzelemente miteinbaut. Ekstatische Gefühle vermag die Musik ebenso zum Ausdruck zu bringen wie Melancholie und Angst.
Beale Street, Szene (© DCM)
Die Liebe ist in
Beale Street ein Überlebensmechanismus und Barry Jenkins feiert und ehrt sie in all ihren Formen. Warum er ausgerechnet ihnen, dem schwarzen Paar, das Loft vermieten würde, möchte Fonny von dem jungen jüdischen Vermieter wissen. Seine einfache Antwort steht für den
spirit des Films: "Ich mag Menschen, die sich lieben".
Autor/in: Esther Buss, freie Filmkritikerin und Redakteurin, 04.03.2019
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