Kinostart: 15.12.2022 Verleih:Studiocanal Regie: Isaki Lacuesta Drehbuch: Isa Campo, Isaki Lacuesta, Fran Araújo, frei adaptiert nach dem Buch von Ramón González Darsteller/innen: Nahuel Pérez Biscayart, Noémie Merlant, Quim Gutiérrez, Alba Guilera, Bruno Todeschini, Sophie Broustal u.a. Kamera: Irina Lubtchansky Laufzeit: 120 min, dt. F., OmU Format: digital, Farbe FSK: ab 12 J. Altersempfehlung: ab 15 J. Klassenstufen:ab 10. Klasse Themen:Trauer/Trauerarbeit, Terrorismus, Frankreich, Liebe, Trauma Unterrichtsfächer:Französisch, Ethik, Psychologie, Philosophie, Sozialkunde
Der 13. November 2015 hat sich als kollektives Trauma tief in der französischen Gesellschaft festgesetzt. In einer Anschlagsserie an unterschiedlichen Orten in Paris ermordeten islamistische Terroristen 130 Menschen und verletzten Hunderte weitere. Der Konzertsaal Bataclan war Hauptschauplatz des Attentats. Dort starben 90 Menschen. Sieben Jahre nach den traumatischen Ereignissen und wenige Monate nach Abschluss des Gerichtsprozesses und der Verurteilung des einzigen überlebenden Terroristen ist Frieden, Liebe und Death Metal einer von mehreren fast zeitgleich produzierten Spielfilmen, die die Ereignisse aufzuarbeiten versuchen. Wie lebt es sich mit der traumatischen Erfahrung, einen Terroranschlag überlebt zu haben? Das junge Paar Ramón und Céline stolpert in Überlebensdecken gehüllt am frühen Morgen nach der Anschlagsnacht aus dem Bataclan nach Hause. Während Céline die Erinnerungen verdrängt und ihren Alltag mit Pragmatismus weiterlebt, stürzt Ramón in Panikattacken und Sinnkrisen. Penibel versucht er sich auch des kleinsten Details dieses Abends zu erinnern und findet mit therapeutischer und medikamentöser Unterstützung langsam in ein anderes Leben. Der unterschiedliche Umgang mit der traumatischen Erfahrung entzweit das Paar zunehmend und entfremdet es auch von seinem Umfeld mit dessen gut gemeinten, aber letztlich hilflosen Reaktionen.
Trügerische Bilder und falsche Erinnerungen
Der spanische Regisseur Isaki Lacuesta hat in seinem Film die gleichnamigen – nicht ins Deutsche übersetzten – Erinnerungen von Ramón González, einem Überlebenden des Bataclan-Anschlags, frei adaptiert und sich auch auf zahlreiche Aussagen weiterer Anschlagsopfer zum Umgang mit ihrem Trauma gestützt. Die Erfahrungen der Betroffenen verarbeitet er dabei ästhetisch auf sehr anspruchsvolle Weise: Dass im Kino versucht wird, Subjektivität mit filmischen Mitteln zu simulieren und den psychischen Zustand einer Figur für die Zuschauenden erfahrbar zu machen, ist zwar nichts Neues. Lacuestas Inszenierung geht jedoch weit über das übliche Maß hinaus, indem sie - wie die menschliche Psyche - objektive Perspektive und subjektive Wahrnehmung trügerisch vermischt. Frieden, Liebe und Death Metal folgt darin der psychoanalytischen Filmtheorie, nach der das Filmbild in unseren Köpfen Vorstellungswelten erzeugt, die denen des Unbewussten ähneln. Die ersten Einstellungen des Films, musikalisch unterlegt mit Monteverdis "Lamento della ninfa" und teils in Zeitlupe und mit irrealen Lichtreflexen gefilmt, konfrontieren die Zuschauenden mit wirklichkeitsentrückten Eindrücken von Paris in der Anschlagsnacht, um dann mit einem harten Schnitt in einer dem Anschein nach objektiven filmischen Realität zu landen. Zahlreiche Kameraperspektiven durch Glasfassaden und Spiegelfenster verzerren, verfremden und fragmentieren den Blick auf die Figuren. In Originalausschnitten französischer Fernsehnachrichten, die im Bildhintergrund laufen, werden Fragen hinsichtlich der Diskussion der Anschläge in der medialen Öffentlichkeit aufgeworfen. Der Schnitt vermischt die beiden Zeitebenen, die im Originaltitel Un año, una noche (dt. Ein Jahr, eine Nacht) anklingen: Die Nacht des Anschlags schiebt sich, oft getriggert von Tönen und Geräuschen, in bruchstückhaften Flashbacks in das Jahr nach dem Anschlag. Zunächst sind es nur kurze Erinnerungssplitter, die wie Störbilder in den Alltag der Figuren funken und im Laufe des Films in einen narrativen Zusammenhang finden.
Mit und in der Vorstellung weiterleben
Dabei bleiben die Zeitebenen in all ihrer Diskontinuität erstaunlich chronologisch. Der Film endet mit dem Ende der Nacht und dem Ende des Jahres danach: mit dem Wiedereröffnungskonzert im Bataclan. Im Laufe der Geschichte verschiebt sich die Identifikationslenkung der Zuschauenden von Ramón auf Céline. Und zunehmend schleichen sich Unstimmigkeiten im Informationsgehalt der Zeitebenen ein; das Puzzle geht nicht auf: Was hat es mit dem roten Karohemd auf sich, das Ramón am Abend im Bataclan trug und von Céline sorgsam in einer Box gehütet wird? Was bedeutet der "imaginäre Freund", der als Lichtreflex an der Wand tanzt? Und was ist nun eigentlich "wirklich" passiert? Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass falsche Erinnerungen entstehen und traumatische Ereignisse komplett verdrängt werden können: Ist Ramón tatsächlich im Bataclan zu Tode gekommen und Céline stellt sich nur vor, er würde weiterleben? Céline, die niemandem vom Anschlag erzählte, tough ihr Leben weiterlebte und sich fürsorglich um ihren Freund kümmerte, sagt sich nach einem Flirt in der Disco von Ramón los. Du musst dich nicht mehr um mich kümmern, signalisiert ihr Ramón in dieser Schlüsselszene, und Céline gelingt das Loslassen, und die Vorstellung an ein Leben ohne ihn. Was bleibt? In der Disco tanzt Céline zu einem Lied, das von ihrer Darstellerin Noémie Merlant selbst eingesungen wurde: "Je t’invente si fort", heißt es im Refrain, "Ich stelle mir dich ganz fest vor."
Autor/in: Dr. Almut Steinlein, freie Autorin, Lehrkraft und Dozentin, 12.12.2022