Hintergrund
Bin ich anders? – Transgender im Kino
Ob Komödie oder Drama, die Nöte mit der erwachenden Sexualität und der Zugang zum anderen oder auch gleichen Geschlecht sind Bestandteil jedes modernen Teenagerfilms. Was aber, wenn das andere Geschlecht im eigenen Körper beheimatet oder die eigene Sexualität noch nicht einmal definiert ist? 1999 erreichte mit
Boys Don't Cry (Kimberly Peirce, USA 1999) erstmals ein Film mit Transgender-Thema ein Mainstreampublikum. Die Schauspielerin Hilary Swank errang für ihre bewegende Darstellung des Transsexuellen Brandon Teena – nach einer wahren Geschichte – den Oscar®. Doch während Berührungsängste mit Homosexualität stetig schwinden, bekommen Transgender-Filme – zumindest abseits schwul-lesbischer Filmfestivals – selten Aufmerksamkeit.
Romeos: Turbulenzen und Transformation
Dabei sind neuere Filme wie
Romeos ... anders als du denkst! (Sabine Bernardi, Deutschland 2011) auch für ein breiteres Publikum attraktiv. Das verwirrende Zusammenspiel von Körper und Gefühl, jedem Menschen aus der eigenen Pubertät wohlbekannt, wird in der schwungvollen Inszenierung lediglich auf die Spitze getrieben. Der 20-jährige Lukas erlebt in gewisser Weise seine zweite Pubertät: Im fortgeschrittenen Stadium seiner Hormontherapie, aber noch vor der einschneidenden "Geschlechts-OP" (der operativen "Geschlechtsangleichung", in diesem Fall durch die Entfernung von Brüsten und Eierstöcken), steht der attraktive Jüngling fast am Ende seiner körperlichen Veränderung von der Frau zum Mann. Am liebsten würde er einfach seinen Zivildienst ableisten, wie jeder Junge seines Alters. Die genderpolitisch ignoranten Behörden allerdings akzeptieren lediglich ein Soziales Jahr und stecken ihn zu allem Unglück in ein Schwesternwohnheim. Während die zwischenmenschlichen Turbulenzen in griffigen Dialogen ausdiskutiert werden, greift die Kamera den körperlichen Aspekt sehr behutsam auf. Mit schweren Hanteln trainiert Lukas seine Muskeln, die Entwicklung neuralgischer Zonen ("Bauch, Beine, Arsch") wird täglich vermessen und akribisch notiert. Körperhaare und Flaum kommen ins Bild, doch erst nach
einer Weile lässt die erste
Großaufnahme die immer noch weiblichen Formen erkennen: Trotz der täglichen Testosteronspritze hat Lukas, der sich schon immer als Mann fühlt und auch so wirkt, noch einen langen Weg vor sich. Immer wieder betrachtet die Kamera den sich verändernden Körper. In diesem sehr filmischen Verfahren wird die Transformation nachvollziehbar – so wie Lukas sie erlebt: als Abfolge kleiner, aber für sein Selbstgefühl lebensnotwendiger Sensationen.
Lust und Verwirrung
Dass soziales und biologisches Geschlecht – ganz nach neuesten Gendertheorien – nicht zwangsweise zusammengehören, macht die Komik von
Romeos aus. Im täglichen Umgang mit anderen will Lukas seine körperliche Weiblichkeit verbergen. In Schwulenbars und Billardsalons überwindet er seine Schüchternheit und sucht bewusst "männliche" Herausforderungen – um dann doch der finalen körperlichen Begegnung aus dem Weg zu gehen. Am Badesee erfindet er gar eine "Sonnenallergie",
um sich durch seine Nacktheit nicht zu verraten. Regisseurin Sabine Bernardi inszeniert das geschlechtliche Verwirrspiel als humorvolle Abfolge sich steigernder Konflikte und Missverständnisse, in der Erfahrungen von Diskriminierung stets nur kleinere Rückschläge bilden. Der schwule Machotyp Fabio etwa bricht den Kontakt zunächst ab, als er von Lukas' Transsexualität erfährt. Nach dem ersten Schock wird der heiße Flirt jedoch unvermindert fortgesetzt. Ein ebenfalls kompliziertes Verhältnis verbindet Lukas mit Ine, die ihn noch als Mädchen kannte. Sie vermisst die Freundin von einst und ist von seiner Körperobsession sichtlich genervt: "Bei dir ist alles nur noch trans, trans, trans!" Warum er keine Frau bleiben wolle, wenn er ohnehin auf Männer stehe, will sie außerdem wissen – dass auch zwischen sexueller Identität und sexueller Orientierung kein notwendiger Zusammenhang besteht, muss Lukas ihr erst klarmachen. So gelingt es dem Film immer wieder, komplexe Sachverhalte anschaulich zu vermitteln. Die nahe liegenden "dummen" Fragen werden genauso aufgegriffen wie homosexuelle Vorurteile gegen Transsexuelle ("Transen"), die sich von denen Heterosexueller nicht wesentlich unterscheiden.
Radikale Form der Identitätsfindung
Diese offene Herangehensweise, unterstützt durch einen flotten
Schnitt und einen
Soundtrack mit pulsierenden Elektrobeats, verleiht
Romeos trotz seiner anspruchsvollen Thematik eine angenehme Leichtigkeit. Nur im Internet, wo Lukas mit der "trans family", also anderen Transsexuellen in ähnlicher Lage kommuniziert, offenbaren sich auch die dunkleren Seiten des Themas: die Erfahrung von Gewalt und Diskriminierung, das Leben im "falschen" Körper, das bange Warten auf die "Geschlechts-OP". Regisseurin Bernardi lag jedoch, nach eigenen Worten, vor allem an einem Liebesfilm, "kämpferisch und romantisch". Dass es sich dabei um eine "radikale Form der Identitätsfindung" handelt, wird nicht verschwiegen. In den prinzipiellen Ängsten und Sehnsüchten, der Suche nach Akzeptanz des eigenen Körpers bei anderen wie bei sich selbst, dürfte sich dennoch jedes Publikum wiederfinden.
Tomboy – Mikaël oder Laure?
Weniger radikal, nämlich aus einer kindlichen Perspektive, beleuchtet
Tomboy (Céline Sciamma, Frankreich 2011) dasselbe Thema. In der neuen Nachbarschaft gibt sich die zehnjährige Laure als Junge aus und nennt sich Mikaël. Was schon in dem deutschen Spielfilm
Mein Freund aus Faro (Nana Neul, Deutschland 2008) aus einer Laune heraus geschieht, hat auch hier tiefere Ursachen. Laure, mit kurzen Haaren und kurzen Hosen kaum als Mädchen erkennbar, ist doch mehr als ein Tomboy – im englischen Sprachgebrauch ein "burschikoses" Mädchen, das sich in seiner Freizeitgestaltung vornehmlich an Jungs orientiert. Eher scheint ihr der beschwerliche Weg vorgezeichnet, den Lukas aus
Romeos bereits hinter sich hat.
Kindliche Erlebniswelt
Noch aber befindet sich Laure/Mikaël in einer vorpubertären Findungsphase, definieren sich die sozialen Rollen von Mann und Frau nicht über Identität, sondern über das Spiel. Mikaël spielt mit den anderen Jungen – Mädchen bleiben davon ausgeschlossen – Fußball, lernt dabei mit männlicher Geste auf den Boden zu spucken und beteiligt sich sogar an Ringkämpfen. Vom Wesen her introvertiert und schüchtern, haben seine Küsse mit der Nachbarstochter Lisa etwas von einer Mutprobe. In zärtlichen und einfühlsamen Bildern eines Sommers versteht es Regisseurin Céline Sciamma blendend, der kindlichen Erlebniswelt eine Form zu geben, die das in diesem Alter vorherrschende Gefühl von Neugier und Unbestimmtheit respektiert.
Rollenerwartungen und gesellschaftliche Zwänge
In der elterlichen Wohnung allerdings werden die Bilder deutlicher. Auch Mikaël begutachtet seine "Brüste" im Badezimmerspiegel und scheint von körperlichen Dingen schon mehr zu ahnen als üblich. Nicht nur Lukas in
Romeos hat eine Penis-Prothese, auch sein jüngeres Pendant füllt seine mühsam selbstgeschneiderte Badehose mit Knetmasse, um am Strand überzeugen zu können. Sciammas beobachtender Erzählstil, der nahezu gänzlich ohne untermalende
Musik auskommt, registriert dieses Verhalten kommentarlos. Anders als in
Romeos, wo keine Frage unausgesprochen bleibt, ist das Publikum angehalten, seine Schlüsse selbst zu ziehen. Die eigene Urteilskraft erfordert auch das Verhalten der nichtsahnenden Eltern. Denn natürlich fliegt der ganze Schwindel auf. Zwei Wochen vor Schulbeginn muss dem sexuellen Experiment dringend ein Ende gesetzt werden. Im hastig übergestreiften Kleidchen wird Laure von der Mutter durch die Nachbarschaft geschleift, um sich bei den "betrogenen" Kindern zu entschuldigen. Auch wenn sich beide Eltern um Einfühlsamkeit bemühen und ihre Motive darlegen, bleibt die Prozedur demütigend. Am Ende wird sich Mikaël wieder Laure nennen, doch da baumelt das verhasste Kleid längst herrenlos im Wind. Noch immer behält der Film seine Ambivalenz – und lässt ahnen, dass hier ein geschlechtlicher Entwicklungsprozess nicht endet, sondern tatsächlich erst beginnt.
Offensiver Bezug zur Körperlichkeit
Was Transgender-Filme wie
Romeos und
Tomboy – oder auch
XXY (Lucía Puenzo, Argentinien, Frankreich, Spanien 2007) zum Thema Intersexualität – anderen Jugendfilmen voraushaben, ist der offensive Bezug zur Körperlichkeit. Der eigene Körper, zentral zum Verständnis der eigenen Sexualität, bleibt im Mainstreamfilm meist eine Leerstelle. Die Filme erlauben nicht nur eine Auseinandersetzung mit den bekannten gesellschaftlichen Normen und Rollenerwartungen. Sie bieten die Möglichkeit, tabubehaftete Aspekte menschlicher Sexualität in ihrer ganzen biologischen, psychologischen und sozialen Vielfalt angstfrei zu erörtern. Ob vom Mann zur Frau oder von der Frau zum Mann – die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind fließender, als die meisten wahrhaben wollen.
Autor/in: Philipp Bühler, Filmjournalist und Autor von Filmheften der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 10.10.2011
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