Kinofilmgeschichte
Kino-Film-Geschichte XXIV: Das heikle Coming-out – Homosexualität im Film
Wenn die Vulcanetten in Bully Herbigs Traumschiff Surprise bei ihrem Herumtunteln ganz dick auftragen, zeigt sich das Publikum besonders amüsiert. Warum wird da ungeniert über schwules Verhalten gelacht? Weil das "Andere", das "Exotische", immer auch lächerlich ist? Weil sich Heterosexuelle so von homoerotischen Attitüden distanzieren? Oder weil Homosexualität in der Gesellschaft akzeptiert und auf der Kinoleinwand so selbstverständlich ist, dass man mit Schwulen (und Lesben) lachen und weinen kann, ohne darüber nachdenken zu müssen?
Philadelphia
Die Nöte der Stars
Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als hätte sich die Selbstverständlichkeit vielfältiger sexueller Orientierung im Kino durchgesetzt. Sogar das homophobe Hollywood lässt seit Jahren homosexuelle Hauptfiguren zu. Heterosexuelle Schauspieler brillieren gern in schwulen Rollen, sei es Tom Hanks in dem Aids-Drama
Philadelphia oder Kevin Kline in
In & Out. Es verdirbt nicht mehr das männliche Star-Image, wenn man einen Homosexuellen spielt. Sogar in der Volksrepublik China, wo man "darüber" immer noch nicht spricht, ist 1996 mit Zhang Yuans
East Palace, West Palace ein Film zum Thema entstanden – wenn auch gegen große Widerstände und im Land selbst kaum gezeigt. Wie labil die Akzeptanz nicht normierter sexueller Präferenzen im Filmgeschäft dennoch weiterhin ist, belegen die Probleme, die gerade Hollywood-Schauspieler/innen bekommen, wenn sie sich tatsächlich als schwul/lesbisch outen. Die Nachfrage in den Studiobüros und an den Kinokassen kann danach abrupt schwinden. Der seelische Absturz der lesbischen Darstellerin Anne Heche (u. a.
Wag the Dog) ist nicht zuletzt auf die Spannung zurückzuführen, die da auszuhalten ist.
Anders als die Anderen
Die längste Zeit der Filmgeschichte war Homosexualität ein Un-Thema, gerade in der amerikanischen Traumfabrik. Die Pionierfilme für die Zielgruppen wurden in Deutschland gedreht. Da ist vor allem Anders als die Anderen von Richard Oswald zu nennen, in dem 1919 ein schwuler Geiger einem Erpresser zum Opfer fällt. Der Schwule muss sich umbringen und der Film darf nach kurzer Kinoauswertung auf Veranlassung der Zensur nur noch "Ärzten und Medizinbeflissenen, in Lehranstalten und wissenschaftlichen Instituten" gezeigt werden. Die erste offensichtliche Lesbe der Leinwand ist gleich eine negative Figur. Es handelt sich um die moralfreie Gräfin von Geschwitz in G.W. Pabsts Verfilmung des Wedekind-Dramas Die Büchse der Pandora von 1928. Der lesbische Kultfilm überhaupt ist aber Leontine Sagans Mädchen in Uniform von 1931 (es gibt auch ein verkitschtes Remake aus dem Jahr 1958). Zarte Gefühle wachsen in einem Mädchenheim. Und die Protagonistin muss keinen Selbstmord begehen, damit die "öffentliche Moral" wieder hergestellt wird. Das ist bemerkenswert für homosexuelle Figuren in den ersten 70 Jahren der Filmgeschichte.
Hosenrollen und Fummel-Szenen
Für homosexuelle Kinogänger/innen gab es also kaum Identifikationsfiguren auf der Leinwand. Sie mussten sich mit Anspielungen zufrieden geben. Lesbische Zuschauerinnen entdeckten sie in Hosenrollen und erotisch ambivalenten Stars wie Asta Nielsen (vor allem als Hamlet aus dem Jahr 1921) oder Greta Garbo, z. B. in Königin Christine (USA 1933). Einer Sensation kam es gleich, als Marlene Dietrich als Varieté-Künstlerin im Frack 1930 in Sternbergs Marokko eine Frau im Publikum auf den Mund küsste. Schwule Männer mussten noch genauer hinschauen, um etwa in den studentischen Mördern in Hitchcocks Rope (USA 1948) oder in den Cowboys in Howard Hawks' Red River (USA 1948) oder gar in den Helden Messala und Ben Hur (in beiden Monumental-Versionen von 1926 und 1959) homosexuelle Paare zu entdecken. Ihnen blieben zum Vergnügen nur berühmte "Fummel"-Szenen, die Männer in Frauenkleidung zeigen, etwa Cary Grant in Ich war eine männliche Kriegsbraut, Laurel und Hardy in einer ganzen Anzahl ihrer Streifen und selbstverständlich – unsterblich! – Tony Curtis und Jack Lemmon in Manche mögen's heiß.
Blüten und Explosionen
Lange bevor das Mainstream-Kino Homosexualität als solche benannte, versuchte der Experimentalfilm sie zu thematisieren. Allerdings musste auch er sich zunächst symbolischer Zeichen bedienen. Die zwei berühmtesten Experimentalfilme stammen aus dem Jahr 1947. In Un Chant d'Amour symbolisierte der französische Poet Jean Genet das Geschlecht durch Blüten und Waffen. In Fireworks zeigte der amerikanischen Kinopoet Kenneth Anger Ejakulationen als Explosionen.
Die bitteren Tränen der Petra von Kant
Schatten über Lesbierinnen
Während in der Rechtsgeschichte männliche Homosexualität durch viele Jahrhunderte mit der Todesstrafe und später mit Gefängnis bedroht war, wurde gegenüber weiblicher Homosexualität meist Toleranz durch Wahrnehmungsverweigerung geübt. Vielleicht war sie deswegen ein wenig früher unverstellt auf die Leinwand zu transportieren – freilich zunächst meist noch von schicksalhaften Schatten bedroht. So wurde Ingmar Bergmans Präsentation einer inzestuös begehrenden Lesbe in Das Schweigen 1963 zum Skandal. Zwei Jahre später zeigte Jacques Rivette lesbische Zuneigung in Die Nonne. 1967 folgte Der Fuchs von Mark Rydell, in dem eine Lesbe durch einen Mann von ihrer "Verirrung" geheilt wird (ein häufiges Motiv bei heterosexuellen Filmemachern). 1968 traten Lesben in Chabrols Les Biches, 1969 in Bertoluccis Der große Irrtum und in Aldrichs Das Doppelleben der Schwester George auf, und 1972 drehte der schwule Filmemacher Rainer Werner Fassbinder sein großes Lesben-Melodram Die bitteren Tränen der Petra von Kant.
Schwule Männer erobern die Leinwand
Ende der 1960er Jahre, als sich mit der Revolte der Studenten/innen in den westlichen Ländern die Moralvorstellungen änderten, kam auch der Durchbruch für den schwulen Mann auf der Kinoleinwand. Einer der ersten Filme, der ohne Schnörkel zeigte, dass Männer mit Männern leben und lieben, war eine Komödie über die Mühen des Alltags: Stanley Donens Unter der Treppe (USA 1969) mit Rex Harrison und Richard Burton. Dann übernahm Europa das Niederreißen der Tabus, vor allem Rosa von Praunheim mit Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (BRD 1971). Aber die Situation erwies sich als beharrlich. Als Wolfgang Petersens Liebesgeschichte zwischen Männern Die Konsequenz 1977 vom Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wollte der Bayerische Rundfunk das seinen Bürgern/innen nicht zumuten und schaltete sich aus. Ein Jahr später machten die überdrehten Travestie-Scherze in Ein Käfig voller Narren nur noch Spaß. 1980 zeigte Frank Ripploh in Taxi zum Klo sexuellen Frust und sexuelle Praxis einer gealterten Beziehung. Und 1989 war sogar die DDR bereit, mit Heiner Carows Coming Out filmisch einzuräumen, dass Homosexualität existiert. In der Nacht der Uraufführung dieses Films fiel die Mauer, der Kalte Krieg endete – aber die Darstellung eines filmischen Coming-out ist immer noch ziemlich heikel.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006