Andreas Dresen, geboren 1963 in Gera, ist einer der renommiertesten deutschen Regisseure. Mit seinen Dokumentar- und Spielfilmen gewann Dresen neben zahlreichen anderen Preisen den Deutschen Filmpreis (unter anderem für
Nachtgestalten, 1999,
Halbe Treppe, 2002,
Wolke 9, 2005), den Grimme Preis in Gold (
Die Polizistin, 2000), sowie den Silbernen Bären der Internationalen Filmfestspiele Berlin, den Regiepreis der Festivals in Chicago und Gent (
Halbe Treppe, 2001) und den Hauptpreis der Sektion
Un certain regard in Cannes (
Halt auf freier Strecke, 2011). Am Theater inszeniert Dresen seit 1996, zuletzt die Mozart-Opern
Don Giovanni in Basel (2006) und
Le Nozze di Figaro in Potsdam (2011).
Herr Dresen, was hat Sie speziell an Henryk Wichmann interessiert?
Ich habe vor zehn Jahren schon einmal einen Film über ihn gedreht. Damals war er erst 24 und hat für ein Bundestagsdirektmandat im Wahlkreis Uckermark/Barnim kandidiert – ohne Erfolg. Der Film war ein kleiner Überraschungserfolg, weil er auf heitere Weise die Mühen der Demokratie während des Wahlkampfes zeigte. Vor zwei Jahren las ich davon, dass Henryk Wichmann Abgeordneter der CDU-Fraktion im Brandenburger Landtag geworden ist. Mich hat interessiert, wie ein Politiker so ein Mandat mit Leben füllt und wie das konkret aussieht.
Und wie ist Henryk Wichmann damit umgegangen, dass Sie ihm über Wochen bei jedem Schritt gefolgt sind?
Henryk Wichmann ist ein Mensch, der grundsätzlich sehr offen ist und keine Scheu vor peinlichen Situationen hat. Er sagt, das gehört zum Leben mit dazu und versteckt nichts – trotz aller Unsicherheit. Er weiß aber auch, dass ich ihn nicht in die Pfanne hauen würde, weil ich das mit keinem Protagonisten meiner Filme mache, schon gar nicht in einem Dokumentarfilm. Wir haben Verabredungen getroffen, die so eine Zusammenarbeit ermöglichen. Er hatte die Möglichkeit, die Dreharbeiten jederzeit zu unterbrechen und Szenen zu streichen. Allerdings nicht rückwirkend. Nach einem Tag Karenzzeit "gehörte" das Material mir. Man muss grundsätzlich fair miteinander umgehen und ich als Dokumentarist muss am Ende frei über das gedrehte Material verfügen können.
Sein beruflicher Alltag wirkt alles andere als glamourös. Ist der Arbeitsalltag im Parlament wirklich so profan?
Ich glaube, der Alltag der meisten Politiker in diesem Land besteht nicht aus roten Teppichen. Begibt man sich in die Niederungen der Regionalpolitik, ist die Alltagsarbeit oft sehr sachorientiert und kleinteilig. Ich war total überrascht, wie sehr so ein Abgeordneter als wandelnder Seelsorger für alle Probleme und Wehwehchen der Bürger zuständig ist. Henryk Wichmann kümmert sich bis zur tropfenden Heizung wirklich um alles Mögliche. Da dachte ich manchmal schon: Mensch, können die Bürger da nicht ihren Hausmeister anrufen?
Was hebt Ihren Film von einer journalistischen Herangehensweise ab?
Ich betreibe keinen investigativen Journalismus. Es geht um den Alltag und nicht um das Aufdecken spektakulärer, politischer Missstände. Natürlich haben wir eine andere Perspektive als das Fernsehen, wenn wir im Plenum des Landtags filmen. Wir sind ganz dicht bei unserem Helden und beobachten die Situation aus seiner Perspektive. Man erhält einen Einblick in die feinen Zwischenvorgänge des demokratischen Alltags.
In Ihrem Film haben Sie auf einen Kommentar aus dem Off verzichtet, obwohl einige Zusammenhänge durchaus erklärungsbedürftig sind.
Das ist die Herausforderung des dokumentarischen Erzählens: nach filmischen Möglichkeiten zu suchen, Dinge zu zeigen, ohne sie direkt verbal mit der berühmten Fernsehstimme aus dem Off zu erklären. Wir gehen mit Henryk in die Situationen hinein und versuchen später in der
Montage diese Szenen so zu erzählen, dass sie sich für den Zuschauer vermitteln und auch interessant sind. Das erlaubt jedem Zuschauer, sich ein eigenes Urteil zu bilden – im besten Sinne Beobachter zu sein.
Obwohl Wichmann jetzt Kinder und Familie hat, bleibt sein Privatleben im Film ausgeklammert. Welche Gründe gab es dafür?
Wir haben auch solches Material gedreht, aber als wir den Film
im Schnitt hatten, erschien uns das einfach zu boulevardmäßig und nicht besonders schlüssig. Wir erzählen ja nicht über den Privatmann Henryk Wichmann, sondern es geht um ihn in seiner Funktion im politischen Betrieb und wie er diese ausfüllt. Deswegen haben wir uns später dazu entschlossen, an der Haustür haltzumachen.
Das ist vermutlich eine grundsätzliche Frage, ob man den Blick auf die Funktion einer Person richtet oder ob man sie als Ganzes zeigen sollte.
Das hängt ganz von der Perspektive ab, für die man sich entscheidet. Filmemachen hat immer mit Entscheidungen zu tun, denn man kann nicht alles zeigen. Dokumentarfilm betrachtet einen Ausschnitt von Wirklichkeit und dieser Ausschnitt ist diktiert durch die Perspektive der Leute, die den Film gemacht haben. Man darf einen Dokumentarfilm, so realistisch er auch daher kommt, nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Die Wirklichkeit findet immer noch auf der Straße und vor dem Fenster statt und nicht im Kino. Im Kino kann man dafür mit etwas Glück die Wahrheit finden.
Autor/in: Luc-Carolin Ziemann, Autorin, Kuratorin und Filmvermittlerin, Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, 21.08.2012
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