Der Filmtitel ist doppeldeutig. Nur vordergründig ist mit dem "Staatsfeind Nr. 1" tatsächlich der Feind des Staates (z. B. Terroristen oder im konkreten Fall ein Anwalt und ein abtrünniger NSA-Mitarbeiter) gemeint. Im Grunde ist es der Staat selbst bzw. die staatliche Organisation NSA, die zum Feind Nr. 1 des amerikanischen Bürgers wird, zu einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt: Die geheimnisumwitterte "National Security Agency" (NSA), deren Aufgabe es ist, den Staat vor äußeren und inneren Feinden zu schützen, entpuppt sich als gefährlicher Bumerang. Der unschuldige 'kleine' Bürger wird zum Gejagten und Teile einer staatlichen Behörde zu seinen Jägern.
Thomas Brian Reynolds ist hoher Mitarbeiter des Geheimdienstes NSA, der die Arbeit seiner Behörde durch den Kongressabgeordneten Phillip Hammersly gefährdet sieht, weil dieser sich vehement gegen ein neues Gesetz stellt. Dieses würde der NSA die totale Überwachung der Bevölkerung ermöglichen. Reynolds lässt den Politiker umbringen. Sein Pech: Der Mord wird zufällig von einem Wissenschaftler gefilmt, der seine Kamera zur Tierbeobachtung just einige Meter vom Tatort entfernt installiert hatte. Die Kassette mit dem brisanten Material wird dem Anwalt Robert Dean zugesteckt – ohne dass er davon etwas merkt. Von nun an hat Dean keine ruhige Minute mehr. Mit großem technischem Equipment bis hin zur Satellitenüberwachung versucht Reynolds an das Band zu kommen. Dean gelingt es erst mit Hilfe des abgetauchten NSA-Mitarbeiters Brill, dem Spuk ein Ende zu setzen.
Regisseur Tony Scott, Drehbuchautor David Marconi und Produzent Jerry Bruckheimer haben einen Politreißer geschaffen, der den Zuschauern das Thema der allgegenwärtigen Überwachung mit allen Mittel des Unterhaltungskinos nahe bringt.
Der Staatsfeind Nr. 1 zeigt deutlich, wie groß das Risiko totaler Überwachung sein könnte – oder vielleicht schon ist. Die Behörde, die eigentlich Terroristen verfolgen und Anschläge verhindern soll, wendet sich gegen unbescholtene Zivilisten – durch korrupte und machtgierige Mitarbeiter. Scotts Film visualisiert, wie weit die Überwachung gehen kann, Dean ist praktisch an keinem Ort der Welt sicher vor den Kameraaugen der NSA. Ob auf der Straße, in öffentlichen Gebäuden oder zuhause: überall sind Kameras oder zumindest Mikrofone versteckt; die Privatsphäre des einzelnen existiert praktisch nicht mehr. Robert Dean muss sich bis auf die Unterwäsche ausziehen, nur so kann er sicher sein, dass keine Abhör-Wanze 'mitläuft'. Der Film findet bedrohliche Bilder für diesen völligen Verlust der Privatsphäre. "Comeuppance" ist der englische Begriff für die Situation, in die Dean gerät: Sämtliche Fäden, die ihn mit seinem bisherigen Leben verbunden haben, werden gekappt. Dean verliert seinen Job, seine Frau und seine Freunde, die Kreditkarte wird gesperrt. Unser Held ist – zumindest für kurze Zeit – ohnmächtig. Dabei setzen die Macher auf eine klassische Genrezutat, die von Hitchcock bekannt ist: Der Zufall regiert, ein harmloser, unbescholtener Bürger findet sich als Gejagter wieder. Der zu Unrecht Verdächtige muss sich aus den Fangarmen des 'Bösen' befreien und beweisen, dass er unschuldig ist. Es gehört ebenso zum Genre, dass er dann gleich zum Gegenschlag ausholt und am Ende die ganze Maschinerie des Gegners zum Erliegen bringt. Doch der Held kann nur triumphieren, weil ihm ein abtrünniger NSA-Mitarbeiter unter die Arme greift. Da bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Heißt das nicht, dass das Spiel ohne die Fachkenntnisse Brills verloren gewesen wäre und der Einzelne in Wahrheit keine Chance gegen die perfekt organisierte Behörde hätte? Über solche Fragen nach dem Realitätsgehalt des Films mag man streiten. Die dargestellte Überwachungsmaschinerie ist in dieser Perfektion vielleicht noch eine Zukunftsvision. Der Zuschauer aber wird verunsichert – und damit hat der Film sein Ziel erreicht.
Der Film von Bruckheimer/Scott ist perfektes amerikanisches Unterhaltungskino mit allen dazugehörenden Versatzstücken und Klischees und doch ist er weit entfernt von den brachial-platten Vorgängerproduktionen dieses Duos.
Der Staatsfeind Nr. 1 besticht nicht nur durch seine beängstigende Zukunftsvision einer überwachten Welt, sondern auch durch seine rasant montierten Bilder- und Szenenfolgen, die dem Sujet eine adäquate Form verleihen. Die immer wieder genutzte Vogelperspektive, die das Satellitenauge simuliert, ist die treffende Perspektive für die Bedrohung des Individuums: "Big Brother is watching you" – die alte Orwellsche Formel begleitet den Film und somit auch den nachdenklich gewordenen Kinozuschauer.
Autor/in: Joachim Kürten, 01.04.1999