Geschichte und Geschichten
Die Dinge ereignen sich, dann werden sie zur Geschichte. Von Historikern/innen wird Geschichte aus Quellen rekonstruiert. Geschichte wird aber auch in vielen Geschichten konstruiert, etwa von Dichtern und den Medien. Der Film
Der letzte Zug erzählt so eine Geschichte. Es ist die des letzten Judentransports von Berlin nach Auschwitz im April 1943, beziehungsweise die einiger Menschen in einem Waggon des letzten Zuges, der insgesamt 688 Männer, Frauen und Kinder jüdischer Herkunft in das Vernichtungslager transportierte. Die Existenz dieser Deportationszüge ist eine historische Tatsache. Die Handlung des Films jedoch ist Fiktion. Die Figuren sind erfunden, ihre Schicksale nach bestimmten dramaturgischen Mustern verknüpft. Über historische Hintergründe – außer über den Fakt eines letzten Transports – wird das Publikum durch diesen Film nicht informiert. Stattdessen lässt
Der letzte Zug die Zuschauenden das Leid der im Viehwaggon Eingesperrten mitfühlen. Die Erzeugung von Mitgefühl jedoch ist seit der antiken Tragödie eine Hauptaufgabe der dramatischen Künste, zu denen auch das Medium Film gehört.
Symbole der Reise
Der Film setzt ein mit der Verhaftung der Protagonisten/innen durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo). Die Bildfolgen vom Anrücken der Gestapo über die brutale Erstürmung der Wohnungen bis zum Abtransport der entsetzten Menschen sind aus den zahlreichen Darstellungen dieser historischen Ereignisse bekannt. Auch der Montagerhythmus der Bilder und Szenen folgt traditionellen Mustern. So wird die Bewegung des Transports durch viele Einstellungen der Wagenschlange in der Landschaft, der Lokomotive, der Dampfsäule und der Räder auf den Schienen visualisiert. Spätestens seit
Shoah, Claude Lanzmanns großem Dokumentarfilm über die Massenvernichtung, werden solche Bildmotive auch als Metaphern für die "verkehrstechnische Grundlegung" des Holocaust genutzt.
Helden in der Katastrophe
Die Verhaftungsaktion der Gestapo führt die Protagonisten/innen des Films ein, seine "Helden" und "Heldinnen". Die Dramaturgie ist dem Genre der Katastrophenfilme entlehnt: Eine überschaubare Zahl von glänzend gespielten Identifikationsfiguren agiert stellvertretend für die namenlose Menge der Betroffenen. Die Zuschauenden lernen in diesem Prolog zum Film die Familie Neumann mit ihrem Baby und Tochter Nina kennen, das Liebespaar Ruth Zilbermann und Albert Rosen sowie den alten Varieté-Komiker Jakob Noschik mit seiner Lebensgefährtin Gabrielle Hellmann. Auf die Aktionen und Emotionen dieser Gruppe wird sich die Filmhandlung im Wesentlichen konzentrieren. Auch die Szenen am Bahnhof Grunewald, wo die jüdischen Menschen auf ihre "Verladung" warten, gehören noch zur Exposition. Am Bahnsteig wird das Spannungsmoment etabliert, das es dem Publikum ermöglicht, auf Rettung der Protagonisten/innen zu hoffen: Albert Rosen schmuggelt Werkzeug in den Waggon und verabredet einen Fluchtversuch. Außerdem tritt am Bahnhof auch der Antagonist erstmals auf, der Transportleiter und SS-Obersturmführer Crewes, der den Tätern/innen dramaturgisch ein ziemlich konturloses Gesicht verleiht.
Sechs Tage in Enge und Elend
Die zentrale Filmhandlung beginnt mit der Einblendung "Erster Tag" und dem Gebet eines frommen Juden. Sie ist gegliedert in sechs Tage, jeweils eingeleitet mit einer Anrufung Gottes, und sie transportiert eine Passionsgeschichte: den Leidensweg von rund 100 Menschen im Viehwaggon nach Auschwitz. Dieser Waggon ist hauptsächlicher Handlungsort. Die Kamera verlässt ihn nur anlässlich einiger Stopps an Bahnhöfen und Weichen. Das hat Folgen für die Filmästhetik. Der letzte Zug ist ein Kammerspiel, fast ausschließlich in
Naheinstellungen und Großaufnahmen eingefangen. Die Kamera fungiert gleichsam als Mitgefangener. Um Enge und Elend zu verdeutlichen, filmt sie meist zwischen Menschen hindurch. Die Schauspieler/innen müssen sehr konzentriert arbeiten und erfüllen ihre Aufgabe beeindruckend gut.
Stationen einer Passion
Zu einer Passionsgeschichte gehören Passionsstationen. Das sind zum einen die Haltepunkte des Zugs. An einem dieser Haltepunkte werden Galgen aufgebaut. Die Menschen im Waggon fürchten, hingerichtet zu werden. Als man dann Partisanen hängt, sind sie geradezu glücklich – ein verstörender Hinweis auf die Ambivalenz menschlicher Empfindungen. An einigen Passionsstationen werden auch Aspekte der Historie angedeutet. Da sind die Reisenden, die wegschauen, nicht reagieren, wenn die Deportierten nach Wasser rufen. Da gibt es die Auseinandersetzung zwischen dem Transportleiter der SS und den Wehrmachtsangehörigen, die den jüdischen Menschen Brot zuwerfen. Diese Szenen sind ohne historische Vorkenntnis – etwa über die Spannungen zwischen Wehrmacht und SS – zwar nicht in ihrer historischen Dimension zu verstehen, aber doch als Ausdruck einer verbliebenen Menschlichkeit. Auch die idyllischen Rückblenden, mit denen die Erinnerungen einzelner Protagonisten/innen illustriert werden, könnten dahingehend falsch interpretiert werden, dass es den jüdischen Menschen in Berlin gut gegangen sei, bevor die Gestapo nachts ihre Wohnungen stürmte.
Arbeit an der Hoffnung
Eindringlich gespielte und inszenierte Stationen der Passion finden sich dagegen im Waggon, innerhalb der Gruppe der Gefangenen. An den dramaturgischen Höhepunkten des Films geht es um die Überwindung der anfänglichen Aggressionen, wachsende Solidarität, um Opferbereitschaft, die Bewältigung des Sterbens, die ersten Schritte eines Kindes, um die unausrottbare Hoffnung des Menschen auf die nächste Sekunde, versinnbildlicht in den Bemühungen der Männer, eine Fluchtmöglichkeit zu schaffen. Selbst in der ausweglosen Situation, die Menschen auf ihre nackte Existenz reduziert, versuchen sie sich noch zu retten.
Beethoven an der Rampe
Der letzte Zug ist vor allem eine Existenzparabel. Sie handelt von der Hoffnung, obwohl sie absurd ist, vom Weitermachen im Sinne des Sisyphus, und sie stellt sehr deutlich die Frage nach Gott. Am Ende des Films gibt es zwei große und nachdenkliche Bilder: An der Rampe von Auschwitz singt der Komiker Jakob im Ascheregen der Verbrannten Beethovens "Hymne an die Freude" mit der Betonung von Schillers Zeile "überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen"; dann wird er erschossen. Danach betet ein Mädchen, dem die absurd scheinenden Bemühungen der Männer tatsächlich die Flucht ermöglicht hat, das
Schma Israel: "Höre Israel, unser Gott ist einzig ...". Der Himmel, in den die Kamera dabei hinaufschwenkt, kann nach dem Erlebnis dieses Films nur leer gedacht werden – eigentlich.
Ganz zuletzt machen die beiden Regisseure/innen Joseph Vilsmaier und Dana Vávrová mit einer Überblendung auf die Stelen des Berliner Holocaust-Mahnmals, über die der Abspann läuft, nochmals aufmerksam auf die Auswirkung der manifesten wie der erzählten Geschichte auf die Gegenwart.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 09.11.2006