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24. Duisburger Filmwoche
Das Himmler-Projekt
Kann man drei Stunden intensiv einem Schauspieler zuhören und zuschauen, der eine Nazi-Rede vorträgt? Man kann, und man erfährt viel dabei. Das Himmler-Projekt heißt der Film von Romuald Karmakar, der auf der Duisburger Filmwoche des deutschsprachigen Dokumentarfilms mit dem 3sat-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde. Der Preis honoriert ein Projekt, das konträr zu allem zu sein scheint, was landläufig als "filmische Sehgewohnheiten" bezeichnet wird. Ein Preis, der zum Profil der Duisburger Filmwoche passt.
Verfolger ...
Das Himmler-Projekt ist eine wortwörtlich vorgetragene Geheim-Rede, die der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, 1943 vor 92 Generälen hielt. Vier Kameras nehmen den Schauspieler Manfred Zapatka auf, wie er – in seiner Privatkleidung und vor neutralem Hintergrund – diese Rede vorträgt. Zapatka dramatisiert wenig und imitiert nicht, er spricht in heutigem Tonfall, und das macht die Rede so bestürzend. Seine Darstellung reduziert Himmlers Rede auf die inhaltliche Aussage, damit werden diese einer Wahrnehmung und Analyse zugänglich, die bisher nicht möglich war.
... und Verfolgte
Abschied – ein Leben lang zeigt drei Personen aus dem Volk, deren Vernichtung Himmlers Rede galt. Gerda, Curtis und Anne gelang es, aus Österreich zu fliehen, ihre Verwandten starben zum größten Teil in den Vernichtungslagern. Der Film der österreichischen Autorin Käthe Kratz zeigt, wie Gerda, Curtis und Anne aus den USA, wo sie leben, wieder nach Wien kommen und die Orte aufsuchen, wo sie bis zu ihrer Emigration gelebt haben. Besonders intensiv sind die Schilderungen der verzweifelten Versuche, eine Möglichkeit zum – legalen oder illegalen – Verlassen des Landes zu finden.
Jugendliche Lebenswelten
Während der Film von Käthe Kratz technisch mit allem aufwarten kann, was "state of the art" ist, waren mehrere in Duisburg gezeigte Filme mit Digitalkameras aus dem Consumer-Bereich gedreht. Zwei Filme, Hand auf's Herz und Die Anderen, gaben ihren Protagonisten die Kamera selbst in die Hand. Die Projektverantwortlichen versprachen sich davon unverfälschte Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt ihrer jugendlichen Protagonisten. Das Resultat fällt jedoch zwiespältig aus. Der fünfzehn Jahre alte Ben, dessen "Videotagebuch" Oliver Schwabe für den NDR produziert hat, ist durchaus in der Lage, nicht nur seine Skater-Leidenschaft darzustellen, sondern auch vor der Kamera über seine schwierige Situation in der Schule und andere Themen zu reflektieren. Schwabe gibt aber auch offen zu, immer wieder mit Anregungen und Tipps interveniert zu haben. Der Film Die Anderen, produziert von Johanna Rieseneder und Gerald Hötzeneder, setzt zu sehr auf den Charme und die Unbekümmertheit seiner jugendlichen Selbst-Darsteller. Hier fehlt der kritische Blick auf die Aussagekraft des Materials, geraten Passagen zu lang(atmig).
Gefängnisbilder
Harun Farocki war es wie schon oft vorbehalten, eine Untersuchung von Bildern auf ihren ideologischen Gehalt vorzulegen. Als "work in progress" zeigte er seinen Film Gefängnisbilder (Ausstrahlung am 26.11.), der dokumentarische und inszenierte Bilder zum Thema "Gefängnis" auf ihre ursprünglichen und ihre erworbenen Bedeutungen hin analysiert. Man kann gespannt sein auf die endgültige Form dieses Film-Essays, dessen Assoziationen sicher provokativ, aber auch produktiv sein werden.
Harmonische ...
Trotz der geheimnisvollen Aura des Theaters und allem Glanz erschien der mit dem ARTE-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnete Film Die Königin von Werner Schroeter auf der Ebene der persönlichen (und politischen) Ebene etwas unterbelichtet. Schroeters Portrait der Schauspielerin Marianne Hoppe verlässt sich zu sehr auf ihre Wirkung auf der Bühne und einige wenige Szenen außerhalb des Theaters. Der Zuschauer erfährt jedoch zu wenig über diese herausragende Persönlichkeit des Theaters und der Zeitgeschichte.
Neustadt
... und disharmonische Erinnerungsarbeit
Packender sind die Filme, in denen Konflikte thematisiert werden, Erfahrungen, die nicht so widerspruchslos auszuwerten sind. Mit Bubi heim ins Reich war so ein Film, in dem der Filmemacher Stanislaw Mucha nach einem Kriegsverbrecher recherchiert und bei dessen einflussreicher Großfamilie auf massiven Widerstand stößt. Dreckfresser von Branwen Okpako, ausgezeichnet mit dem Förderpreis für den besten Nachwuchsfilm, thematisiert das Schicksal des ersten schwarzen Polizisten in Deutschland, seinen Aufstieg zur Medien-Person und Vorzeige-Attraktion und seinen Absturz zum Kleinkriminellen.
Gestau(ch)te Gefühle
Ein Film, der lange im Gedächtnis bleibt, ist auch Thomas Heises Neustadt (Ausstrahlung 6.12.2000 im MDR). Heise hat vor einigen Jahren mit seinem Film Stau die rechte Szene in Halle ins Bild gerückt. Nun ist er wieder nach Halle-Neustadt zurückgekehrt. Entstanden ist ein leiser Film, der sich zum großen Teil auf eine Familie konzentriert, die schon im ersten Film mitspielt. Die Kinder sind nun fast alle erwachsen und führen ihr eigenes Leben. Was in Heises Gesprächen mit ihnen deutlich wird, ist Einsamkeit – und die Unfähigkeit zur Kommunikation. Der Freund der Schwester hat sich umgebracht, der eine Bruder dealt, der andere weiß nicht, wie er seine Schulden nach diversen Prozessen bezahlen soll. Selten war Dokumentarfilm so lebendig wie hier.
Autor/in: Eckart Lottmann, 21.09.2006