Es ist Winter im spanischen Toledo, als Pilar heimlich die Koffer packt, ihren Sohn Juan an die Hand nimmt und aus der ehelichen Wohnung verschwindet – weg aus dem Hort der Gewalt, aus diesem Leben ohne Zukunft. Pilar zieht mit Juan zu ihrer jüngeren Schwester Ana, wo sie zunächst bleiben kann, sich sicher fühlt vor ihrem Mann Antonio, mit dem sie seit über zehn Jahren verheiratet ist. Antonio schlägt Pilar, doch diese kam bisher nicht von ihm los, schaffte es nicht mit dem Loslassen, dem Weggehen.
Der Wille zur Veränderung
Jetzt, wo sie es dem Anschein nach geschafft hat und bei Ana wohnt, stellt Antonio ihr nach, fleht sie an, gelobt Besserung und beschwört sie, dass er sie noch liebe, sie doch brauche. Und tatsächlich, Antonio besucht eine Gruppentherapie und lernt dort mehrere Männer mit den gleichen Problemen kennen. Als Pilar durch die Vermittlung ihrer Schwester und durch Freundinnen einen neuen Job antritt, zunächst als Ticketverkäuferin an der Kathedrale von Toledo, später dann als Museumsführerin, versucht Antonio, ihr wieder näher zu kommen; er wartet vor der Kathedrale auf sie, schenkt ihr Kunstbände, versucht seine Frau zu verstehen. Pilar ist ob seines Flehens hin- und her gerissen – sie muss eine Entscheidung treffen.
Psychogramm einer Ehe
Öffne meine Augen ist der dritte Spielfilm der 1967 in Madrid geborenen spanischen Drehbuchautorin und Schauspielerin Iciar Bollain, die zuvor in mehr als 15 Filmen als Schauspielerin mitwirkte, darunter etwa in Ken Loachs
Land and Freedom aus dem Jahr 1995. Im selben Jahr gab sie ihr Regiedebüt mit dem Kinofilm
Hola, estás sola, 1999 folgte
Blumen aus einer anderen Welt. Mit
Öffne meine Augen hat sie das Porträt einer Ehe inszeniert, ein Psychogramm zweier Menschen, zwischen denen dort, wo eigentlich Liebe sein sollte, Gewalt steht.
Doppelte Katharsis
Öffne meine Augen ist ein formal konventionell gehaltenes Drama über eine zweifache Selbstfindung, eine doppelte Katharsis: jener Pilars und jener Antonios – vielleicht auch jener des Paares. Denn obwohl es Pilar über Jahre hinweg nicht geschafft hat, sich von Antonio zu lösen, beginnt er ihr zu fehlen, als sie diesen Schritt endlich vollzieht. Ist das Masochismus, Liebe, Abhängigkeit? – Eine typisch weibliche Position? Regisseurin Iciar Bollain und ihre Koautorin Alicia Luna versuchen konzentriert, die heikle Problematik einzukreisen, mehr noch, sie versuchen beide Seiten kritisch zu hinterfragen, die des so genannten Opfers und die des so genannten Täters. Das macht dieses wunderbare, sehr bewegende, authentisch anmutende Liebesdrama so glaubwürdig: Es ist völlig frei von Vorurteilen und jeglichen moralischen und sozialen Wertungen.
Rollenbilder und Gewalt
Inzwischen ist es längst kein Geheimnis mehr, dass zunehmend auch Männer von ihren Frauen oder Partnerinnen geschlagen oder psychisch subtil malträtiert werden. Allerdings trauen sich viele Männer nicht, das zuzugeben, es wäre für sie ein kompromittierendes Eingeständnis der "Schwäche" und entspräche damit nicht den gesellschaftlichen Rollenerwartungen. In Deutschland etwa sind es inzwischen über 220.000 Männer und über 240.000 Frauen, denen jährlich Gewalt angetan wird. Das sind nur die offiziellen, bekannten Zahlen; die Dunkelziffer dürfte für beide Seiten ungleich höher liegen. Erst langsam rückt dieses unangenehme Thema medial aus dem Schatten der Tabuzone heraus. Iciar Bollain legt die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zwar noch klassisch-konventionell an, zeigt zumindest aber auch die Selbstzweifel Antonios, seine ihn quälenden Schuldgefühle, das ehrliche Bemühen um eine Therapie, den Wunsch, sich bessern zu wollen. Man nimmt ihm das ab, auch seinen Kampf gegen das Umfeld, das ihn teilweise ablehnt.
Ambivalente Gefühle
Wenngleich die Regisseurin den Ursprung von Antonios Affinität zur Gewalt nicht näher beleuchtet, verurteilt sie ihn aber auch nicht voreilig und zeigt zugleich die komplexen Wechselbeziehungen des Paares, etwa wenn Pilar trotz der erfahrenen Gewalt immer noch sehr an Antonio hängt, ihn gar vielleicht immer noch selbstlos liebt. Man spürt zugleich, dass auch Antonio seine Pilar noch liebt. Es bleibt eine sehr ambivalente Situation, Gefühle lassen sich nun einmal nicht logisch erklären.
Öffne meine Augen hat den Mut zu diesen Gefühlen, die nie kitschig, pathetisch oder klischeehaft wirken. Sie sind getragen von den beiden glaubwürdig agierenden Hauptdarstellern/innen Laia Marull und Luis Tosar, getragen auch von einem guten, stringenten, realitätsbezogenen Drehbuch und einer behutsamen sensiblen Inszenierung. Es ist ein leiser Film über die Grenzen und Tiefen menschlichen Zusammenseins, ein ehrlicher, mutiger Film – selten, schmerzlich und schön überdies.
Autor/in: Thilo Wydra, 01.07.2005