Hintergrund
Auf dem Weg zum Kinomythos
Filme über den 11. September 2001
Da sind sie wieder auferstanden: die Zwillingstürme des World Trade Center. Zwischen ihnen ist ein riesiges Spinnennetz aufgespannt; in ihm turnt die Comic-Figur Spider-Man. Es sind quasi verbotene Bilder, die in Hito Steyerls Video-Installation
Lovely Andrea in diesem Jahr auf der documenta 12 in Kassel zu sehen sind. Die Szenen waren bereits für den ersten
Spider-Man-Film abgedreht, als am 11. September 2001 zwei Passagierflugzeuge im Abstand von 17 Minuten in die Twin Towers einschlugen und die Stahlbeton-Konstruktionen wenig später in sich zusammenstürzten. Die Bürger/innen der USA erlitten ein Trauma. Da entfernten die
Spider-Man-Macher diese Bilder, die nun zu Erinnerungsbildern geworden waren, aus ihrem Film.
Das Bilderverbot
Kurz nach dem 11. September schien im Kino eine Art "Filmverbot" über die Ereignisse verhängt. Man sprach von Respekt vor den Opfern, von der ungeheuerlichen Dimension der Terroranschläge. Nach ihnen sollte nichts mehr so sein wie zuvor, hieß es. Genau auf diese Formel spielte Max Färberböck zwei Jahre später an, als er in seinem Spielfilm
September (Deutschland 2003) die unmittelbaren Auswirkungen des inzwischen gleichsam mythisch fixierten Datums auf einige in Deutschland lebende Menschen inszenierte. Da war längst nicht mehr von der Unverfilmbarkeit des Terrors die Rede. Die Katastrophe drängte zu ihrer Verarbeitung in der Fiktion. Sie hatte sich in Stoff verwandelt – sowohl für den Büchermarkt wie für das Kino.
Der dokumentarische Duktus
Tatsächlich war es schon am 11. September 2001 klar, dass der Bilderhunger der Mediengesellschaft sich mit den bloßen Dokumenten der Katastrophe nicht abspeisen lassen würde. Dennoch dominieren diese Dokumente bis heute die mediale Verwertung der Fakten. Noch niemand hat den Einschlag der Flugzeuge nachgestellt, noch niemand den Einsturz der Zwillingstürme als Spektakel im Computer animiert. In den bisher gedrehten Spielfilmen kommt die Katastrophe stets in den bekannten authentischen Fernsehbildern zu ihrem Ausdruck. Nur das Umfeld ist Kulisse und Regie. Gerade die amerikanischen "9/11"-Fiktionen
Flug 93 (Paul Greengrass, USA 2006),
World Trade Center (Oliver Stone, USA 2006) und jetzt auch
Die Liebe in mir (Mike Binder, USA 2007) beharren im Übrigen darauf, ganz dicht am dokumentarischen Verfahren geblieben zu sein, reale Personen als Vorbilder der Filmfiguren gewählt und mit Überlebenden und Angehörigen, mit beglaubigenden Zeugen und Zeuginnen also, zusammengearbeitet zu haben.
Inszenierte Reportagen und authentische Berichte
Ohnehin war es zuerst der dokumentarische Markt, der die Bilder vom 11. September verbreitete und durchaus kommerziell nutzte. Eine 50-minütige Reportage wie Ground Zero – Die ersten 24 Stunden (2001) des US-amerikanischen Senders MSNBC lief auf zahlreichen Fernsehkanälen und kam auch als DVD heraus. Sie wurde sogar mit Ground Zero – Das Jahr danach (2002) fortgesetzt, wobei hier bereits fiktive Elemente integriert waren. Richard Dale befragte für seinen Film 9/11 – Die letzten Minuten im World Trade Center (2002) zwar Augenzeugen/innen, stellte gleichzeitig jedoch Szenen in den Gebäuden mit Schauspielern/innen nach, nicht unbedingt informativ sondern sichtlich auf Spannung und damit auf Unterhaltung angelegt.
Die eindringlichste Dokumentation über die Ereignisse in New York – und wahrscheinlich der beste Film, der bisher über die Katastrophe existiert – ist Der 11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center (2002) von den französischen Kameraleuten Jules und Gédéon Naudet. Während einer Reportage über die New Yorker Feuerwehreinheit Ladder 1 wurden die Filmemacher in den Strudel der Begebenheiten gezogen. Einen verschlug es in die Eingangshalle eines getroffenen Turms, wo er die Ratlosigkeit, die Hilflosigkeit, die entsetzte Erstarrung der Feuerwehrleute beobachtete. Der andere suchte vor dem World Trade Center mit laufender Kamera nach seinem Bruder und registrierte den Schock, der über Manhattan kam (die wechselnde Perspektive von innen und außen nahm später Regisseur Oliver Stone in World Trade Center auf). Wenn der 11. September irgendwo authentisch wiedergegeben ist, dann in diesem Film.
Verschwörungstheorien
Doch sogar in einige deutsche Kinos hat es Loose Change von Dylan Avery gebracht. Loose Change versammelt alle Verschwörungstheorien, die seit dem 11. September grassieren. Avery zeigt nur Bilder, die aus den Medien bekannt sind. Er stellt ihre offizielle Interpretation allerdings in Frage. So wird bezweifelt, dass der Einsturz der Twin Towers eine Folge der Flugzeugeinschläge sein könne. Die Verschwörungstheoretiker gehen von einer vorbereiteten Sprengung des Gebäudes aus, denn sie unterstellen eine Beteiligung der amerikanische Regierung an den Terroranschlägen. Wie groß das Interesse an solchen Theorien ist, belegt die "Einschaltquote" von Loose Change. Allein im Internet wurde der Film weit über 20 Millionen Mal angeklickt und angeschaut.
Fiktionalisierung
Während ein Film wie
Loose Change versucht, offiziell akzeptierte Realitäten neu zu interpretieren, machen objektive Dokumentationen einen Sachverhalt im besten Fall einsichtig, wenn auch nicht unbedingt begreiflich. Um zu begreifen, sind Emotionen und Identifikationen hilfreich. Deswegen muss die Katastrophe Gesichter und Schicksale bekommen. Das leistet die literarische, dramatische oder filmische Fiktion. Als Fiktion fasste das Kino den 11. September 2001 zuerst gleichsam mit spitzen Fingern an. Der Produzent Alain Brigand lud elf international bekannte Regisseure und Regisseurinnen ein, sich mit jeweils einer Episode an einem "Omnibusfilm" zum Thema zu beteiligen. Dabei sollte es keinerlei inhaltlichen Vorgaben geben – bis auf die exakte Filmlänge jeder Episode von elf Minuten, neun Sekunden und einem Bild. Die internationale Produktion
11'09''01 – September 11 (2002) erzählt in elf berührenden, sehr unterschiedlichen Kurzfilmen von den Ereignissen des 11. September und seinen Folgen. Man näherte sich dem Datum des Terrors multiperspektivisch – noch bevor Hollywood ein Heldenlied anstimmen konnte und wollte.
Keine Heldenepen
Denn Hollywood folgt in der Regel stets bestimmten etablierten Dramaturgien. So war es geradezu erwartbar, dass die erste Filmfiktion über "9/11" aus einem amerikanischen Studio sich des United-Airlines-Flugs 93 annehmen würde. Der Flug UA 93 stürzte bekanntlich bei der Kleinstadt Shanksville, Pennsylvania, ab. Hier lag eine klassische Katastrophenfilm-Situation vor, hier gab es eine überschaubare Gruppe von Protagonisten/innen, hier hatten Handytelefonate aus der Maschine die Legende hervorgebracht, einige mutige Passagiere hätten das Cockpit gestürmt und die Entführer am Erreichen ihres Ziels in Washington gehindert. Es gab also ein Heldenepos zu erzählen. Doch überraschender Weise vermied der britische Regisseur Paul Greengrass in
Flug 93 alles Pathos. Er passte sich dem bislang vor allem dokumentarischen Duktus der medialen Rezeption von "9/11" an und zeigte hauptsächlich Menschen an Monitoren, die der Entführungssituation von vier Maschinen einfach nicht Herr werden.
Mit Oliver Stones
World Trade Center aber kam das Pathos zurück. Es war allerdings das sentimentale, auf Mitgefühl beruhende, und nicht das heroische Pathos. Obwohl Stone sein Personal aus den Berufsgruppen rekrutierte, die von den US-Medien zu Helden stilisiert worden waren – Polizisten und Feuerwehrleute –, versetzte er gerade diese in den Zustand der Untätigkeit. Seine Hauptfiguren sind verschüttet und auf Hilfe angewiesen. Deren Hilflosigkeit kontrastiert er jedoch mit der Hoffnung ihrer Angehörigen, mit uneingeschränkter Zuversicht, die – so ist Kino, wenn es nicht skeptisch sein mag – am Ende auch noch belohnt wird. Indem das Filmpublikum sein Happy End bekommt, wird die mörderische Dimension der tatsächlichen Ereignisse mit all ihren Opfern nahezu verharmlost.
Jenseits des Mainstreams
Hollywood will eben in erster Linie trösten, egal worüber. Und so kann noch niemand sagen, wohin die erzählerische Umwandlung des 11. September endgültig tendieren wird. Vielleicht wird es sogar interessanter sein, jene Filme zu beobachten, die nicht den Anschlag selbst zum Thema wählen, sondern die Folgen, die er auslöste. Womöglich sind es Filme wie Romuald Karmakars
Hamburger Lektionen (Deutschland 2006), Michael Winterbottoms
Ein mutiger Weg (USA 2007) oder
Folgeschäden (Deutschland 2005) von Samir Nasr die darüber Auskunft geben, ob nach dem 11. September 2001 nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 04.09.2007
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.