Filmfest München 2000
Unter Insidern gilt das große Publikumsfestival als Gemischtwarenladen: ein überbordendes Programm mit zahlreichen Reihen, von denen viele auch noch mit gut dotierten Preisvergaben gekrönt sind.
Niemand kann diese Filme in acht Tagen auch nur ansatzweise sichten, selbst die inzwischen täglich sechs Pressevorstellungen spiegeln nur einen kleinen Ausschnitt. Der Vorteil: Wer bei dieser Programmfülle keinen einzigen guten Film sieht, ist selbst schuld – oder hat einfach Pech gehabt, z. B. wenn die Vorstellungen bereits ausverkauft waren.
Die Polizistin (Foto: UFA)
Deutsche Realitäten – Made in Germany
Die Hinwendung des deutschen Films zu typischen Genrefilmen, aber auch wieder zu sozialen Themen hält offenbar an. In München waren davon eine ganze Reihe von beachtenswerten Beispielen zu sehen: Roland Suso Richter erzählt in
Eine Hand voll Gras die Geschichte eines kurdischen Jungen, der von seinem Onkel nach Deutschland gebracht wird, um dort als Drogenkurier zu arbeiten. Gleich bei seiner Ankunft begegnet der Junge einem Taxifahrer, der – welch ein Zufall – früher bei der Drogenfahndung gearbeitet hat und sich nun des Jungen annimmt. Im ersten Teil des Films konzentriert sich Suso Richter auf die Erlebniswelt des Jungen und vertraut ganz auf seine Bilder. Doch dann stopft er – wie in früheren Werken – wieder zu viele Aspekte auf einmal in die Handlung und irritiert durch dramaturgische Ungereimtheiten. Hätte er den ersten Teil durchgehalten, wäre das ein wunderbarer Film geworden.
Jenseits von Gut und Böse
Für den WDR hat Andreas Dresen
Die Polizistin im sozialdokumentarischen Stil mit Handkamera und grobkörnigen Bildern gedreht. Wie schon in
Nachtgestalten gelingt es ihm, mit glaubwürdigen Charakteren, viel Humor und brillanten Dialogen ein Stück soziale Realität – diesmal in einem Problemviertel von Rostock – wiederzugeben und dabei auch zu unterhalten. Eine junge Polizistin hofft nach ihrer Ausbildung beruflich und privat auf einen Neuanfang. Zermürbt vom täglichen Umgang mit sozialen Randexistenzen verliert sie im Bemühen zu helfen die Distanz zu den größeren und meist kleineren Gesetzesbrechern und gerät in eine persönliche Krise. Was den Film von gängigen Fernsehkrimis unterscheidet, sind seine Sympathien für die Menschen auf "beiden" Seiten und der insistierende Blick auf die Beweggründe ihres Handelns, wodurch hinter "Bullen" und "Kleinkriminellen" plötzlich wieder Menschen hervorscheinen.
Vergiss Amerika (Foto: Arthaus)
Jugendliche Außenseiter
Vor sozialem Konfliktstoff hat sich Norbert Kückelmann in seinen (Fernseh-)Filmen nie gescheut, zumal ihm seine Arbeit als Rechtsanwalt genügend Fallbeispiele liefert. In Verlorene Kinder versucht er sich in einer didaktischen, aber sehenswerten filmischen Beweisführung, dass die Gesellschaft und das soziale Umfeld immer auch eine Mitschuld tragen, wenn Jugendliche zur Gewalt greifen, um sich "Gehör" zu verschaffen. Eine Jugendgang terrorisiert eine süddeutsche Kleinstadt, in der Recht und Ordnung herrschen und das Phänomen daher zunächst unter den Teppich gekehrt wird. Lediglich ein neuer Lehrer, der auch "Doktor Specht" sein könnte, versucht Kontakt mit den Tätern aufzunehmen, ihnen zu helfen und einen Weg aus der Gewaltspirale zu zeigen. Als er scheitert und auch das Gericht die von den Stadtbewohnern erwartete Entfernung der Jugendlichen aus der Gesellschaft nicht vollzieht, greifen die selbstgerechten Bewohner zur Selbstjustiz.
(In schlechter Gesellschaft; Foto: Filmfest München)
Ostdeutsche Jugendwelten
Freundschaft und Liebe in einem ostdeutschen Provinznest:
Vergiss Amerika von HFF-Absolventin Vanessa Jopp erzählt sensibel und packend die Geschichte der beiden Schulfreunde David und Benno, die sich in dasselbe Mädchen verlieben. Anna kommt aus der Stadt und möchte Schauspielerin werden. Sie verliebt sich in den draufgängerischen Benno, der sein Glück mit dem Handel von Gebrauchtwagen versucht. David möchte ein großer Fotograf werden und hat in der sich anbahnenden Dreiecksbeziehung zunächst das Nachsehen. Alle drei müssen bei ihren beruflichen Träumen zurückstecken und schließlich steht sogar ihre Freundschaft auf dem Spiel. Die Filmemacherin hat für ihren stimmigen und atmosphärisch dichten Debütfilm über zerbrochene Träume und ungestillte Sehnsüchte, unbändige Lebenswut und kleine Fluchten des Alltags verdientermaßen den Regie-Förderpreis der Hypo-Vereinsbank erhalten.
Internationale Highlights
Eine kleine Auswahl:
In schlechter Gesellschaft von Jean-Pierre Améris beginnt wie ein üblicher Teeniefilm um erste Liebe und die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Doch bald verlässt der französische Film eingefahrene Bahnen und wird zur verstörenden Parabel um die manchmal zerstörerische Kraft romantischer Liebe. Eine unschuldige 15-Jährige aus gutem Hause verliebt sich in einen Aussteiger, wird aber von dem Jungen nur ausgenutzt und zur Hure gemacht, ohne dass andere das verhindern könnten. Ebenfalls nicht verhindern lässt sich die Exekution eines Mörders (gespielt von Regisseur Emir Kusturica!) in Patrice Lecontes
Die Witwe von Saint-Pierre. Der ungebildete Fremde wird mangels einer Guillotine zur Vollstreckung der Todesstrafe (der Film spielt 1850!) auf einer fernen Insel von der Frau eines Militärkommandanten sozialisiert und in die Gemeinschaft integriert. Die um ihr Ansehen fürchtenden Honoratioren des Ortes versuchen dies mit allen Mitteln zu verhindern. Strukturen der Macht, gegen die auch die Liebe keine Chancen hat. Die Spanierin Helena Taberna greift mit
Yoyes ein nicht nur für ihr Land brisantes Thema auf. Yoyes war die erste Frau, die in der baskischen Terrororganisation ETA eine Führungsposition innehatte, sich gegen männliches Machtgehabe durchsetzte und zur Legende wurde. Nach Jahren des Exils in Mexiko kehrte sie durch eine Amnestie in ihr Heimatland zurück und geriet dort in die Mühlen eines strategisch operierenden Staatsapparates und ehemaliger Mitstreiter, die sie als Verräterin betrachten. Der im Vergleich zu Schlöndorffs "Die Stille nach dem Schuss" sicher bessere Film zum Thema Terrorismus und Reintegration. Letzter Tipp: der demnächst anlaufende Film
Grasgeflüster von Nigel Cole, eine äußerst unterhaltsame britische Komödie zum Thema Hanfanbau, die geschickt alle rechtlichen Fangschlingen umgeht, was allein schon eine Kunst, in jedem Fall sehenswert ist.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006