Ganz am Puls der Zeit drehte Wayne Wang eine bittersüße Liebesgeschichte, die in der Silvesternacht 1996 beginnt und am Morgen des 1. Juli 1997 nach der Rückgabe Hongkongs an China endet. Der in der Kronkolonie geborene Wayne Wang verließ als 18-Jähriger seine Heimat und lebt in Amerika. Mit
Smoke und
Blue in the Face zeichnete er 1996 liebevoll einen heiteren New Yorker Mikrokosmos. Mit
Chinese Box präsentiert er ein Melodram aus idealen Ingredienzen: Liebe und Leidenschaft, Enttäuschung und Entsagung, Verlangen und Verlust. Wieder gibt es ein Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen.
Ein Mann zwischen zwei Frauen
Der englische Journalist John (Jeremy Irons) lebt schon seit 20 Jahren in Hongkong und verzehrt sich nach der aus China stammenden Barkeeperin und Ex-Prostituierten Vivian (Gong Li). Diese ist mit dem Geschäftsmann Chang liiert, der sie auf Grund ihrer dunklen Vergangenheit nicht heiraten will oder kann. Außerhalb dieses traditionellen Liebesdreiecks steht die junge Hongkong-Chinesin Jean (Maggie Cheung ), die John durch ihre Herbheit und gleichzeitige Verletzlichkeit neugierig macht und einen Blick auf ein ganz unbekanntes Hongkong werfen lässt.
Archetypen aus Hongkong
Der 50-jährige Regisseur jongliert mit Metaphern und Symbolen – er nimmt vier archetypische Charaktere der Stadt und konfrontiert sie vor einem realen historischen Ereignis miteinander: Der an Leukämie dahinsiechende John versinnbildlicht das sterbende britische Empire, Vivian die sündige Hure Hongkong, Jean die junge, um das Überleben kämpfende Generation, Chang den pragmatischen Geschäftsmann. John, der immer noch für die Einheimischen als der "fremde Teufel" gilt, verlässt seine Wohnung nie ohne eine kleine Videokamera, um die Emotionen der Bewohner in der Zeit des nahenden Umbruchs einzufangen. Die Menschen scheinen sich jedoch nur um Profit zu kümmern, nicht um ihre Zukunft und die mögliche Beschneidung von Freiheit. Sie umgeben sich mit einem Kokon aus Lügen und Schönfärberei.
Grenzüberschreitungen
Auf die etwas platte Symbolik von stampfenden Industriemaschinen und noch pochenden, blutigen Fischherzen oder einem Hund im Laufrad hätte man verzichten können – manchmal driften die einzelnen Geschichten auch auseinander. Aber diese Schwächen verblassen angesichts der exzellenten Besetzung. Hautnah fängt Wang die angespannte und nervöse Atmosphäre im 6,5 Millionen-Moloch ein, verarbeitet in der Nacht der historischen Übernahme schnell die Eindrücke mit fünf verschiedenen Kamerateams an verschiedenen Stellen der Stadt. So gelangen ihm spannende Aufnahmen wie die der ersten, schon illegalen politischen Demonstration nach Mitternacht oder der Einmarsch der chinesischen Armee über die Grenze. Gedreht wurde im Guerillastil, sehr schnell und mit Handkamera wie auch auf 16 mm, um die Flüchtigkeit des Augenblicks zu unterstreichen, manchmal spürt man direkt die Atemlosigkeit von Individuen, deren Leben langsam aus den Fugen gerät.
Ein packendes Zeitdokument
Durch das chronologische Arbeiten war es auch möglich, Änderungen ins Skript einzubauen und auf Situationen zu reagieren, beispielsweise den Tod von Deng Hsiao-p‘ing. Die tragische Love-Story in der Tradition von
Die Welt der Suzie Wong und
Alle Herrlichkeit auf Erden dient als Vehikel, der Film besteht mehr aus einzelnen Szenen denn aus einer linearen Geschichte. Wang, der die politische Entwicklung in Hongkong skeptisch beurteilt, gelingt ein Zeitdokument zwischen Aufbruchstimmung und Angst. Er zeigt einen Tanz auf dem Vulkan, bei dem die zukünftigen Verlierer oder Gewinner noch einmal einen tiefen Schluck aus der Pulle Leben nehmen – so als wäre es das letzte Mal.
Autor/in: Margret Köhler, 01.08.2000