Hintergrund
Das Stanford-Prison-Experiment
Eine kritische Bestandsaufnahme
Szene aus "Das Experiment"
1971 fand unter der Leitung von Philip Zimbardo an der kalifornischen Stanford-Universität ein ungewöhnliches sozialpsychologisches Experiment statt. Ähnlich wie die Gehorsams-Experimente von Stanley Milgram zehn Jahre zuvor, sollte es demonstrieren, dass unser Gewissen und unsere moralischen Maßstäbe zwar für den Alltag leidlich taugen, unter dem Druck von Extremsituationen aber verblassen und den "Eichmann in uns" hervortreten lassen. 24 Studenten, die man vor Versuchsbeginn auf ihre körperliche und seelische Gesundheit untersucht hatte, wurden nach dem Zufallsprinzip in "Gefangene" und "Wärter" aufgeteilt. Im Keller der Universität war ein simuliertes Gefängnis aufgebaut, in das die Gefangenen eingewiesen wurden, nachdem die örtliche Polizei sie verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt hatte. Innerhalb weniger Tage verwandelten sich friedfertige und intelligente Studenten in brutale, sadistische Wärter oder unterwürfige und verängstigte Gefangene. Nachdem fünf der Gefangenen beunruhigende Zeichen psychischen Stresses gezeigt hatten, musste das ursprünglich auf 14 Tage angelegte Experiment nach sechs Tagen abgebrochen werden, bevor die Situation vollends außer Kontrolle geriet.
Warum im Labor?
Bedurfte es nach den nationalsozialistischen und stalinistischen Lagern, Hiroshima und dem Massaker von My Lai noch eines solchen Experiments mit einem simulierten Gefängnis, um den Nachweis zu erbringen, dass zivilisierte Menschen unter bestimmten Bedingungen zu Folterknechten werden können? Warum begnügt man sich nicht mit der Auswertung von Berichten überlebender Opfer (z. B. Bruno Bettelheim und Primo Levi) und Täter (z. B. Rudolf Höß)? Wenn dann noch Forschungsbedarf besteht, warum schleust man nicht geschulte Beobachter in real existierende Gefängnisse ein oder interviewt Gefangene und Gefängnispersonal? Die behavioristischen Experimente vor allem der 70er Jahre sind Ausdruck des Bemühens der akademischen Psychologie, sich wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen, indem sie die Methoden der Naturwissenschaften nachahmt. Nur was unter künstlich hergestellten und vom Forscher kontrollierten Laborbedingungen beobachtet und gemessen wurde, soll Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit besitzen. Häufig zahlt die Verhaltenswissenschaft für diese vermeintliche Exaktheit den Preis, dass ihre Erkenntnisse trivial sind und für die Übertragung auf die Wirklichkeit kaum etwas abwerfen.
Szene aus "Das Experiment"
Was bedeuten solche Experimente für reale Gefängnisse?
Der Unterschied zwischen Scheingefangenen und wirklichen Gefangenen ist so groß, dass es praktisch unmöglich ist, aus den Beobachtungen Zimbardos gültige Analogien abzuleiten. Der reale Gefangene kennt die Gründe, die ihn ins Gefängnis gebracht haben. Er ist häufig nicht zum ersten Mal in Haft, weiß, was ihn erwartet und kennt die wenigen Rechte, die man ihm zugesteht. Er ist über seine Chancen für eine vorzeitige Entlassung informiert und weiß, was er dafür tun kann. Gefangene entwickeln unter den Bedingungen nahezu totaler Kontrolle über ihre Lebensäußerungen einen erstaunlichen Erfindungsreichtum, sich als Individuen zu behaupten. Dieser Kampf um die Aufrechterhaltung der Identität ist robust und manchmal verzweifelt bis hin zur Selbstverstümmelung und zum Hungerstreik. Er kann auch misslingen und zur psychischen Dekompensation führen.
Reform des Strafvollzugs
Und wie steht es mit den Wärtern, die inzwischen "Vollzugsbedienstete" heißen? Nachdem es in den 60er Jahren zu einigen Gefängnisskandalen wegen zu Tode gekommener Gefangener und Häftlingsrevolten gekommen war, wuchs in Deutschland die Einsicht in die Notwendigkeit der Strafvollzugsreform. Waren die Gefangenen bis dahin einem "besonderen Gewaltverhältnis" und damit der Willkür des jeweiligen Anstaltsleiters und des Personals unterworfen, gelten sie seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (1977) als Träger von Grundrechten, die sie auch dann behalten, wenn sie selbst die Würde anderer Menschen grob verletzt haben. Die Strafe gilt nun nicht mehr vorrangig als schuldvergeltendes Übel, sondern soll dem Versuch dienen, den Straftäter für die Gesellschaft zurückzugewinnen. Solange Straftäter irgendwann aus der Haft entlassen werden, liegt es im wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit, dass sie therapiert und resozialisiert werden und die Anstalten nicht voller Verbitterung und Hass verlassen. Die Bediensteten werden einem Eignungstest unterzogen und während ihrer mehrjährigen Ausbildung in zivilen Methoden der Konfliktlösung geschult. Arbeitsauftrag, berufliche Routine, Teamarbeit und streng zugeschriebene Rollen sorgen im Alltag dafür, dass Durchbrüche von spontanem Sadismus eher selten sind.
Szene aus "Das Experiment"
Gefängnisalltag
Trotz der maximalen Kontrolle gibt es keine andere Institution, in der das Unkontrollierbare so schnell hervorbrechen kann wie im Gefängnis. Unsere Gefängnisse sind überfüllt, drei erwachsene Männer teilen sich eine Zelle von 12 m², in die sie, wenn sie keiner Arbeit nachgehen, 23 Stunden am Tag eingepfercht sind. Dass es angesichts solcher Zustände gelegentlich zu Aggressionsausbrüchen kommt, ist nicht verwunderlich. Um so wichtiger ist es, trotz aller nicht zu leugnenden Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung an der Idee der Resozialisierung festzuhalten und zu verhindern, dass unter dem Druck einer medial beeinflussten öffentlichen Meinung eine Logik der Rache und Vergeltung wiederaufersteht, die im Straftäter nicht mehr den unter bestimmten Bedingungen gescheiterten und zurückzugewinnenden Mitbürger sieht, sondern den möglichst lange wegzuschließenden, unverbesserlichen "Bösen". Andernfalls könnten uns die Resultate des Experiments in Form einer Eskalation der Gewalt in den Gefängnissen einholen.
Elektronischer Hausarrest für alle?
Zimbardos seinerzeit mit Videokameras streng überwachtes Experiment gewinnt inzwischen einen ganz neuen Alltagsbezug. Denn heute veranstalten private Fernsehanstalten solche Experimente fortwährend. Junge Leute lassen sich freiwillig in den Käfig von "Big Brother" oder ins "Girlscamp" sperren und erleben ihre Inhaftierung und Rundum-Überwachung als intimste ihrer Leidenschaften. Jeder ist der Wärter jedes anderen, den Rest erledigen die omnipräsenten Kameraaugen und das Fernsehpublikum in Form von Ranglisten. Wird hier der Strafvollzug von morgen salonfähig gemacht, der für manche Täter in einem elektronisch überwachten Hausarrest bestehen wird? Werden Gefängnisse der herkömmlichen Art irgendwann sogar überflüssig, weil wir uns alle ständig im Fernsehfeld befinden und die Gesellschaft sich zum elektronischen Gesamtgefängnis zusammenschließt?
Eine Demokratie braucht Ungehorsamsmodelle
Wenn es so ist, dass sich unter einem dünnen Firnis der Zivilisation archaische Affekte und Gewaltneigungen halten, die in Krisenzeiten abrufbar sind, muss eine demokratische Gesellschaft praxisorientierte Modelle entwickeln, um solche Regressionen zu verhindern. Es reicht nicht, wenn man gelernt hat, freundlich und hilfsbereit zu sein, man muss z. B. auch wissen, wie man den Gehorsam verweigern kann! Menschen mit autoritärem Charakter, der die Massenbasis des Faschismus gebildet hat, empfanden Schuldgefühle, wenn sie ihre Pflicht nicht erfüllt oder Zeichen von Ungehorsam gezeigt hatten. Wenn schon Schuldgefühle nach den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dann sollten Menschen sie empfinden, die das, was sie tun oder was ihnen befohlen wird, zuvor nicht kritisch prüfen. Das Stanford-Prison-Experiment im Internet:
www.zimbardo.com www.prisonexp.org/
Autor/in: Götz Eisenberg (Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug), 21.09.2006