Auf der Kölner Domplatte, einem Treffpunkt von Straßenkids und Skatern, schnorrt sich der 17-jährige Ex-Junkie Engel durch, der in einem Abbruchhaus haust und von einer Anarchokommune in den Bergen träumt. Als er der 15-jährigen Ausreißerin Johanna, kurz Joe, begegnet, verknallen sich die beiden sofort. Nach dem ersten Kuss verabreden sie sich für den nächsten Nachmittag. Weil Joe sich jedoch um ihre selbstmordgefährdete Mutter kümmern muss, kann sie nicht kommen. Für Engel bricht eine Welt zusammen, denn er fühlt sich versetzt. Er betrinkt sich, greift wieder zu harten Drogen und schläft mit einem Mädchen der Domclique. Als Joe wieder auftaucht, kommt es zum Streit. Damit beginnt ein wilde Folge von Trennungen und Versöhnungen, bis Joe schwanger wird. Doch Engel, inzwischen im Gefängnis gelandet, ist wahrscheinlich nicht der Vater.
Authentische Vorlage
In ihrem zweiten langen Film erzählt Vanessa Jopp, die im Vorjahr für ihr Regiedebüt
Vergiss Amerika hervorragende Kritiken erhielt, mit viel Pathos von der ersten großen Liebe mit all ihren emotionalen Höhenflügen und Tiefschlägen. Das emotionsgeladene Jugenddrama beruht auf einer mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichneten "Stern"-Reportage des Journalisten Kai Herrmann, der 1978 auch das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" geschrieben hat. Allerdings wurde die Filmhandlung von Berlin nach Köln verlegt. Die Mitarbeit Hermanns am Drehbuch und die umfangreichen Recherchen der Regisseurin im Kölner Straßenkids-Milieu verleihen dem Sozialdrama eine harte Beton- und Neonröhren-Atmosphäre. Zu diesem "dokumentarischen Look" (Jopp) trägt maßgeblich die Bildgestaltung der talentierten Kamerafrau Judith Kaufmann bei, die den jungen 'Helden' per Handkamera oft hautnah folgt.
Jugendliche Lebensgefühle
Während Jopp in ihrem Regiedebüt Irrungen und Wirrungen junger Erwachsener überzeugend geschildert hat, die nach ihrem Platz im Leben suchen, beschreibt sie in
engel + joe facettenreich die emotionale Achterbahnfahrt und das oft überbordende Lebensgefühl von Jugendlichen, die mit leidenschaftlichem Elan nach einem Platz in der Erwachsenenwelt suchen. Glaubhaft gemacht wird dieser Hang zum Exaltierten und die Erprobung normativer Grenzen durch die beiden ausgezeichneten jungen Hauptdarsteller. Jopp hat es mit Hilfe etlicher improvisierter Szenen offenkundig verstanden, die Nachwuchsstars Jana Pallaske (
alaska.de) und Robert Stadlober (
Crazy) zu mitreißenden Leistungen zu führen. Stadlober wurde denn auch bei der Uraufführung des Films auf dem Festival von Montreal als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Auch die Zeichnung der diversen Jugendmilieus wirkt stimmig, etwa bei den Reibereien zwischen Punks und Skins am Rande eines Konzerts in einer leerstehenden Fabrik.
Sozialer Abstieg im Zeitraffer
Die angestrebte Authentizität der Darstellung wird jedoch durch unübersehbare dramaturgische Schwächen gemindert. Vor allem im Mittelteil arbeitet das Drehbuch die Episoden des Stationendramas zu mechanisch und wie im Zeitraffermodus ab, so dass der vorhersehbare und damit spannungsmindernde soziale Abstieg des Paars bis hin zur Prostitution zur Beschaffung von Drogen über die passionierte Liebesgeschichte Oberhand gewinnt.
Stereotype Erwachsene
Wichtige erwachsene Bezugspersonen wie etwa die Sozialarbeiterin, die sich um die schwangere Joe kümmert, oder die psychisch labile, tablettensüchtige Mutter Joes, die haltlos von Liebhaber zu Liebhaber wandert, sind allzu stereotyp angelegt. Andere fehlen ganz, wie Engels Eltern, die nie auftauchen oder thematisiert werden. So tritt im gesamten Film keine Erwachsenenfigur auf, die für die jungen wilden 'Helden' als Vorbild für eine gelungene Sozialisation dienen könnte. Auch in einigen szenischen Details hätte man sich mehr Sorgfalt gewünscht: Dass die verzweifelte und allein gelassene Joe dem ersten unsicheren Heiratsantrag des mutmaßlichen Kindsvaters aus der Clique sofort nachgibt, ist ebenso wenig plausibel wie die Weihnachtsszene, in der Joe als verurteilter Straftäter ohne festen Wohnsitz mehrere Tage Hafturlaub bekommt.
Realitätsflucht ohne Ende?
Vor der Tristesse der Realität weicht Engel, der sich seiner Verantwortung wiederholt entzieht, sobald Schwierigkeiten auftauchen, gerne in Drogenkonsum oder Tagträume aus. In dieses eskapistische Verhaltensmuster passt auch seine Vision einer Anarcho-Kommune in den Bergen, fernab von allen Großstadtproblemen. Wenn er mit Joe und dem Baby am Ende mit dem Zug tatsächlich in die Berge fährt, stellt sich dem Publikum aber doch die Frage: Will die Regie mit der Verheißung eines möglichen, alternativen Lebensentwurfs das Publikum nur trösten oder ist dieser filmische Fluchtversuch in eine vermeintliche Idylle ernst gemeint?
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.11.2001