Hintergrund
Straßen-Kids
Sie hängen herum – auf zentralen Plätzen, Bahnhöfen, Parks, vor Einkaufszentren: Jugendliche, die nicht mehr zur Schule gehen, keine Arbeit haben, mal hier, mal dort schlafen. Sie laufen Gefahr, Drogen zu nehmen, abzudriften in die Kriminalität. Erreicht werden sie höchstens noch von ein paar Streetworkern. Straßensozialarbeit, manchmal auch "aufsuchende Jugendarbeit" genannt, akzeptiert die Kids erst mal so, wie sie sind. Es ist die einzige Chance, deren Misstrauen zu überwinden.
Wer kümmert sich um sie?
"Straßenkinder" ist als Bezeichnung nicht ganz zutreffend. Nur ein kleiner Teil derer, die keine Bleibe haben, ist unter 14 Jahren. Diese werden von der Polizei relativ schnell aufgegriffen und über Kindernotdienste, Jugendämter und Heime untergebracht. Die meisten Kids sind Jugendliche oder junge Erwachsene. Um sie kümmern sich zumindest in vielen größeren Städten Teams von Streetworkern. Das Problem: Es gibt zu wenig von ihnen. Auch präventiv lässt sich nur begrenzt arbeiten: Es gibt auf institutioneller Ebene kein aktuell reaktionsfähiges und akzeptiertes Krisenmanagement, das mit Jugendlichen und deren Eltern Lösungen findet, um Abhauen und Untertauchen zu vermeiden. Familientherapeutische Angebote der Jugendämter werden von gefährdeten Familien oft sehr skeptisch gesehen und viel zu spät angenommen – wenn sie von solchen Angeboten überhaupt Kenntnis haben.
Szene aus "engel + joe"
Hohe Dunkelziffer
Verlässliche Zahlen über Jugendliche ohne feste Bleibe bundesweit gibt es nicht, sagt Elvira Berndt, Geschäftsführerin von "Gangway", dem größten Berliner Streetwork-Projekt. Sie koordiniert die Arbeit von insgesamt 46 Streetworkerinnen und Streetworkern. Immer wieder mal liest man die Zahl von 3000 Jugendlichen, die allein in Berlin auf der Straße leben. Viele von ihnen stammen nicht aus Berlin, sondern von außerhalb, sie suchen die Anonymität der Weltstadt. Zu den "streetkids" in Berlin wie andernorts sind sicherlich noch viele Jugendliche mit wechselnden Aufenthaltsorten zu zählen: Mal haben sie gar nichts zum Schlafen, dann kommen sie irgendwie bei Bekannten unter, versuchen es mal wieder zu Hause, um dann nach ein paar Wochen oder Monaten erneut abzuhauen.
Rückzug aus der Gesellschaft
Warum Jugendliche von zu Hause flüchten, ist hinlänglich bekannt. Arbeitslosigkeit und/oder Alkoholabhängigkeit der Eltern kann zu massiven Konflikten führen, manchmal sind Eltern in Scheidungssituationen überfordert, oder ein neuer Lebenspartner verändert die familiäre Situation so sehr, dass Jugendliche keinen Platz mehr für sich sehen. Gleichgültigkeit kann Jugendliche genauso vertreiben wie überzogene Erwartungen und Kontrollen. Dass sie von zu Hause abhauen, ist bereits der Endpunkt einer Entwicklung, die genügend Warnsignale aussendet: Wer zu Hause ständig Stress hat, fällt oft in der Schule ab. Schlechte Noten bringen daheim noch mehr Stress. Dann verbringen Jugendliche halt ihre Freizeit draußen, bei den Kumpels. Kommen sie spät oder mal gar nicht nach Hause, führt das wieder zu Streit. Wer von den Erwachsenen in Elternhaus und Gesellschaft immer nur mit Erwartungen konfrontiert, aber selten als Persönlichkeit wahrgenommen wird, der verabschiedet sich, sucht sich seine Gruppe, in der er akzeptiert wird und Anerkennung findet.
Szene aus "engel + joe"
Ohne Perspektive
Das Leben draußen sieht allerdings nur bei schönem Wetter attraktiv aus. Viele Kids haben Probleme mit Drogen und der so genannten "Beschaffungskriminalität". Dazu kommen mit der Zeit auch gesundheitliche oder psychische Probleme. Die Perspektivlosigkeit des Lebens auf der Straße erkennen viele der Kids schon nach relativ kurzer Zeit. Manche würden schon gerne "normal" ihr Geld verdienen wollen, eine eigene Wohnung haben – aber sie denken, dass sie das nicht schaffen. Kein Schulabschluss, keine Berufsausbildung, eventuell Vorstrafen, als Aussteiger stigmatisiert – wer nimmt so einen?
Reintegrationsversuche
Streetwork bezieht sich auf "auffällige" Jugendliche im öffentlichen Raum, die von anderen Angeboten der Jugendarbeit nicht mehr erreicht werden. Streetworker erwarten von den Kids nicht, dass diese sofort ihr Leben ändern. Sie verstehen sich zunächst als "Gäste in der Lebenswelt der Jugendlichen. Dies verlangt die Akzeptanz ihrer Normen, Regeln und Kulturen – und die stets wache Sensibilität zu erkennen, wann es Zeit ist, sich zurückzuziehen, um dieses Gastrecht nicht zu strapazieren." (Praxishandbuch Mobile Jugendarbeit, hrsg. von der LAG Mobile Jugendarbeit Baden-Württemberg e.V., S. 47.) Streetworker machen keinen Druck mit lösungsorientierten Gesprächen, aber sie sind da, wenn die Kids was erzählen wollen oder Fragen haben. Ihr Konzept ist, über angebotene Gruppen-Aktivitäten Vertrauen und eine Beziehung zu den Jugendlichen aufzubauen. Wenn das gelingt, dann gibt es auch Chancen, gezielt denen mit Informationen und konkreter Begleitung zu helfen, die von der Straße wegkommen wollen. Eckart Lottmann, Autor und Regisseur, realisierte zwei Videodokumentationen über Streetwork: Tropfen auf dem heißen Stein (1995), Worauf es ankommt (2000), beide im Vertrieb der FWU (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, Grünwald).
Anhang:
Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften "Streetwork/Mobile Jugendarbeit "
Verband/Institution
Website/E-Mail-Adresse LAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit Bayern (e. V.)
www.streetwork-bayern.de streetwork.kirchheim@mucl.de LAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit NRW e.V. wuesthof@jugend.ekir.de streetworker.bergheim@t-online.de LAK Sachsen e.V. Mj.ole@t-online.de LAG Berliner Straßensozialarbeiter/innen e.V. Lag.strmja@sozkult.de LAG Streetwork Niedersachsen/ Schleswig Holstein Streetwork-vhd@awo-hannover.de AK Straße/Regionale PraktikerInnen: Jugendarbeit in rechten Szenen in Bremen/Bremer Umland Lidice@jugendinfo.de geschäftsführung@vaja-bremen.de LAG Mobile Jugendarbeit Baden Württemberg e.V. peterstotz@t-online.de LAG Straßensozialarbeit Hamburg strassenpflaster@altona.de 040859663-0001@t-online.de LAG Sachsen-Anhalt yogitom@addeom.de LAG Streetwork/Mobile Jugendarbeit Hessen e.V. LAGStreetworkHessen@gmx.de ISMO-Internationale Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit e.V. ismo@diakonie.de BAG evangelische Jugendsozialarbeit Steimle@bagejsa.de IFFJ namteih@aol.com Burckhardthaus Gelnhausen e.V., Institut für Jugend-, Kultur- und Sozialarbeit e.V. Burckhardthaus-herrgen@ecos.net Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit
www.burckhardthaus.de/sp4.htm
Autor/in: Eckart Lottmann, 21.09.2006