Hintergrund
Rasender Stillstand – Der Jugendkult um Mangas und Animes
Wenn man in Deutschland über Comics spricht, beginnt man am besten mit dem Hinweis, dass dieses Medium längst ein ernst zu nehmendes kulturelles Phänomen ist, das sich keinesfalls auf Micky Maus und Asterix beschränkt, sondern auch als Literaturgattung für Erwachsene und Jugendliche begriffen werden darf. Die Vorurteile gegenüber Comics haben mit dem deutschen Misstrauen gegen alles Populäre zu tun. Für Mangas gilt das erst recht. Obwohl die Bildergeschichten aus Japan in den letzten 10 Jahren die Comic-Szene hierzulande umgestürzt, das Bewusstsein jugendlicher Konsumenten erobert und sich als Muster multimedialer Vermarktungsformen durchgesetzt haben, erscheinen in den Augen vieler Menschen große Fragezeichen, wenn sie auf den Begriff stoßen.
Hokusais Woge
Die Manga-Welle steht über der deutschen Jugend- und Populärkultur wie die berühmte Woge auf dem Holzschnitt des japanischen Künstlers Hokusai. Mit den Mangas hat Hokusai tatsächlich einiges zu tun. Er nannte nämlich seine Skizzenbücher so. Das Wort setzt sich aus den Bestandteilen "man" für "schnell, flüchtig, spontan" und "ga" für "Bild" zusammen. Mangas sind also "Schnellbilder", schnell gezeichnet, zur schnellen Lektüre bestimmt. Sie sind die japanische Bezeichnung für Comic Strips.
Massenzeichenware
In Japan macht die Manga-Produktion etwa ein Drittel aller Druckerzeugnisse des Landes aus. Rund 1,5 Milliarden Exemplare kommen im Jahr auf den Markt. Die Geschichten erscheinen zunächst als Fortsetzungen in dicken Magazinen. Von den Fans werden sie verschlungen und liegen gelassen, kaum je gesammelt. Mangas sind Massenzeichenware, die gar keinen Anspruch auf künstlerischen Rang erhebt, obwohl viele Zeichner ihr Handwerk perfekt beherrschen. Die Auflagen der Alben und Taschenbücher, zu denen die Geschichten für eingefleischte Fans und Sammler schließlich zusammengefasst werden, sind wesentlich kleiner.
Der Mangastil
Seit 1947 hat sich der typische Mangastil entwickelt. Damals erschien in Tokio "Manga Shonen", das erste reine Magazin für Bildgeschichten. Für westliche Lesegewohnheiten zeichnet sich dieser Stil durch hohe Redundanz aus. Eine einzige Szene wird aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet und in Details zerlegt. Im Kino würde man sagen: von der Kamera in verschiedenen Einstellungsgrößen und Perspektiven eingefangen. So entsteht eine Art rasender Stillstand. Unter dem Eindruck hohen Erzähltempos, dem ein hohes Lesetempo entspricht, geht die Handlung nur millimeterweise voran. Deswegen bringen es viele Manga-Geschichten auf einen Umfang von mehreren tausend Seiten.
"Akira" als Vorreiter
Es waren die comicversessenen Amerikaner, die Ende der 1980er Jahre die Mangas als Lesefutter für die eigene Gemeinde entdeckten. Dabei ist das mit der Übersetzung gar nicht so einfach, denn die Japaner lesen von hinten nach vorn und von rechts nach links. Die Sprechblasen sind lang und schlank, denn man schreibt auch noch von oben nach unten. Für die Auswertung im Westen mussten die Hefte zunächst ummontiert werden. Der erste Manga kam 1991 über die USA nach Deutschland. Der Hamburger Carlsen Verlag veröffentlichte Katsuhiro Otomos Postatomkrieg-Epos "Akira".
Multimediale Auswertung
Mit "Akira" wurde eines der großen Standardthemen der Mangas angeschlagen. Viele Geschichten spielen nach Katastrophen in zerstörten oder zerstörenden Zukunftswelten. Wie in den meisten dieser Geschichten gab es schon in "Akira" Helden mit übersinnlichen Fähigkeiten. Aber das Vorhandensein magischer und paranormaler Kräfte spielt auch im Haupt-Genre der Mangas eine entscheidende Rolle: im Wirkungsfeld der Highschool-Helden. Die gezeichnete Geschichte von "Akira" war nur der erste Schritt einer multimedialen Auswertung des Stoffes. Ein Animationsfilm kam dazu; Computerspiele, Soundtracks, Videos, Internet-Auftritte, Spielzeugfiguren und Tradecarts folgten.
Animes erobern das Fernsehen
Inzwischen haben sich die Bildergeschichten aus Japan bei uns durchgesetzt und traditionellen amerikanischen, franko-belgischen oder deutschen Comics Auflageneinbrüche beschert. Vor allem bei Kindern und Heranwachsenden sind Mangas Kult, erst recht, seit sie nicht mehr ummontiert werden, sondern von hinten nach vorn gelesen werden dürfen. Das gibt der Jugendlektüre einen Touch von Besonderheit. Außerdem werden Mangas als Teil einer multimedialen Unterhaltungsindustrie konsumiert. Mindestens genauso wichtig wie die Comic-Bücher sind "Animes", die in Japan nach den Mangas gedreht werden, in Deutschland aber oft auf dem Fernsehschirm erscheinen, noch bevor der Comic am Kiosk liegt, und die so wieder den Griff nach dem Manga als Album zum Fernsehfilm stimulieren.
Prinzessin Mononoke
Markt und Gemüt
Animes sind Manga-Filme. Sie sind in fast allen TV-Kindersendungen anzutreffen und finden als Ausdruck des Gefühls von Jungsein verstärkt Eingang in die Programme der Musikkanäle. Wo die Mangas meist sorgfältig gezeichnet sind, vergröbern viele Animes das Artwork. Hier wird die penetrante Gleichförmigkeit der Gesichter mit den großen Rehaugen überdeutlich, die fast alle Mangahelden haben müssen. Dennoch werden – von Verlagen und Fernsehsendern heftig befördert – Animes als Kult behandelt. Es gibt eigene Zeitschriften dazu, mit Titeln wie "Animania" oder "Manga Zone". Darin bewirbt man die weiteren Konsumartikel zu einer Serie. Konsum und eigenes Empfinden gehören für die Generation der Acht- bis Sechzehnjährigen anscheinend untrennbar zusammen.
Chihiros Reise ins Zauberland
Träume von der großen Liebe
Doch der Geschmacksbildung ist das kultig betriebene Mediennetz wohl nicht zuträglich. Sonst hätte der wunderschöne und ästhetisch hochwertige Anime-Film
Prinzessin Mononoke von Hayao Miyazaki – in Japan ein Renner – in deutschen Kinos nicht zum Totalflop werden können.
Prinzessin Mononoke ist wie
Chihiros Reise ins Zauberland vom selben Künstler, eine Ausnahme, was die grafische Qualität und die Komplexität der Story betrifft. Sonst funktionieren die Mangas auf einer anderen Ebene. Ihre Helden sind fast ausschließlich Schüler und Studenten, also ideale Identifikationsfiguren für die Konsumenten. Es geht um Schwärmerei, um Liebe und Eifersucht, durchaus mit voyeuristischen erotischen Akzenten. Und es geht um die Befriedigung von Träumen und Allmachtsfantasien, für die allerlei magische und märchenhafte Wesen sorgen, die oft mit Superhelden-Qualitäten ausgestattet sind.
Dialog der Generationen
Mangas und Animes sind in Deutschland zu einem Jugendphänomen geworden, das Erwachsene kaum wahrnehmen – es sei denn, sie werden von ihren Kindern mit Kaufwünschen gedrängt. Vielleicht kann ein gemeinsamer Kinobesuch von Eltern und Kindern bei
Chihiros Reise ins Zauberland einen Dialog der Generationen über das Phänomen eröffnen. Der Film handelt schließlich genau davon, wie sehr sich Eltern und Kinder brauchen und aufeinander eingehen sollten.
Autor/in: Gunter Ganter, 01.06.2003