Hintergrund
Die Nürnberger Gesetze – Von der Entrechtung zum Völkermord
Manche Aversionen haben eine lange Tradition. Den Antijudaismus gibt es seit mehr als zweitausend Jahren. Im 19. Jahrhundert bildete sich für den Hass einzelner Menschen oder ganzer Völker gegen die Juden der Begriff des Antisemitismus heraus. In Deutschland entstand zu dieser Zeit eine neue Welle der Judenfeindschaft, die stark nationalistisch geprägt war. Sie bot den Nationalsozialisten den Nährboden zur Durchsetzung ihrer rassistischen Vorstellungen vom Kampf einer "hochwertigen Rasse" der "Arier", der sie selbst natürlich angehörten, und der "minderwertigen Rasse" der Juden, die für so ziemlich alle Missstände der Zeit verantwortlich gemacht wurde. "Die Juden sind unser Unglück", lautete eine von den Nazis verbreitete Parole, die für weite, antisemitisch und nationalistisch eingestellte Bevölkerungskreise als Begründung für die mit der Machtübernahme 1933 einsetzenden Repressalien gegen die Juden ausreichend war.
Nachweispflicht der "arischen" Abstammung
Es blieb nicht, wie manche hofften, bei willkürlichen Exzessen und antisemitischen Aktionen wie dem reichsweit organisierten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April wurde die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten erstmals in einem Reichsgesetz verankert. Juden konnten nun "legal" aus dem öffentlichen Dienst und bald auch anderen Berufen entfernt werden. Nach dem schon bald in nahezu allen Organisationen, Verbänden und berufsständischen Vereinigungen angewandten "Arierparagraphen" mussten Beamte und Angestellte ihre "arische" Abstammung nachweisen, um weiterhin arbeiten zu können. Ahnenpass und Ahnentafel hielten ihren Einzug in die Haushalte. Pastoren, Standesbeamte und Archivare bekamen alle Hände voll zu tun. Die einwandfreie "arische" Herkunft musste bis zu den Großeltern hin stimmen, bei Parteimitgliedern zurück bis 1800. Wer hingegen einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil besaß, war "nicht-arisch" und damit fortan beruflich chancenlos.
Kategorisierungswahn mit tödlicher Konsequenz
Am 15. September 1935 verlas Hermann Göring in Nürnberg während des "Reichsparteitags der Freiheit" unter dem Beifall des dort einberufenen Reichstags die Nürnberger Gesetze. Das Gesetz "Zum Schutz deutschen Blutes und der deutschen Ehre" (Blutschutzgesetz) verbot Eheschließungen und den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden, der nun als "Rassenschande" galt. Auf Verstöße standen Gefängnis oder Zuchthaus. Das Reichsbürgergesetz schränkte die politischen Rechte aller deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens drastisch ein. Seine erste Durchführungsverordnung schuf mit der Festlegung, wer als Jude zu gelten hatte, ein grotesk anmutendes Klassifizierungssystem. Es teilte die Bürger jüdischen Glaubens jeweils in Abhängigkeit von der Anzahl volljüdischer Großeltern ein in Voll-, Dreiviertel-, Halb- und Vierteljuden. Mischlinge 1. und 2. Grades waren juristisch als Halb- beziehungsweise als Vierteljuden zu behandeln. Damit war das Ende des Kategorisierungswahns noch nicht erreicht: "Geltungsjuden" waren als Halbjuden eingestufte Personen, die am 15. September 1935 der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten, zu diesem Stichtag mit einem Juden verheiratet waren oder nach diesem Stichtag trotz Verbots einen Juden heirateten. Sie wurden von der nationalsozialistischen Gesetzgebung wie Volljuden behandelt. Mischlinge 1. Grades wiederum konnten auf besonderen Antrag eine andere rassische Einordnung erreichen und zum "Ehrenarier" avancieren. In der Unübersichtlichkeit solcher "gesetzlichen Bestimmungen" häuften sich die ungeklärten Sonderfälle und Ausnahmen drastisch. Die immer neuen Anordnungen entlarvten die Gesetze als juristisches Machwerk, wenn auch eines, wie sich bald erweisen sollte, von oftmals tödlicher Konsequenz.
Entmenschlichung einer Gesellschaft
Die Nürnberger Gesetze vertieften den mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums" durch die Gesellschaft angelegten Schnitt brutal. Er führte nun durch zahllose Familien, Ehen und Netzwerke zwischenmenschlicher Beziehungen, offenbarte in unübersehbarem Ausmaß Missgunst und Kleinmut, Egoismus und Treulosigkeit, eher selten Standhaftigkeit und Bekennermut. Freundschaften zerbrachen. Menschen, die sich längst nicht mehr als "Glaubensjuden", sondern allenfalls als Deutsche empfanden, sahen sich von einem Augenblick auf den anderen von beruflichen oder geschäftlichen Kontakten isoliert. Kirchenbehörden "enttarnten" und meldeten den Behörden konvertierte Juden. Zwischenmenschliche Herzlichkeit zu Juden schuf einen Strafbestand. Biedermänner denunzierten ihre Nachbarn, bezichtigten sie der "Rassenschande" und lieferten sie einer erbarmungslosen Gerichtsbarkeit aus.
Mischehen als Sand im Getriebe
War die Lage in den meisten Fällen für die Nationalsozialisten eindeutig, so gerieten sie bei den Mischehen in Argumentationsnotstand, obwohl diese aus ihrer Sicht einen eklatanten Widerspruch gegen die Ideologie vom einigen Volk und den auszusondernden Fremden darstellten. Sie scheuten sich jedoch, offen gegen die fest im Volk verwurzelten Institutionen der Ehe und der Familie vorzugehen, denen sie in ihrer eigenen Weltanschauung als Grundlage und Keimzelle der "Volksgemeinschaft" eine außerordentliche Bedeutung beimaßen. So waren die Mischehen zwar seit Nürnberg verboten, wurden aber niemals zwangsweise aufgelöst. Gleichwohl waren die Schicksale höchst unterschiedlich. In vielen Fällen kam es zu diensteifriger "selbstloser" Ausführung der Bestimmungen durch die Betroffenen. "Arische" Männer trennten sich zur Rettung ihrer Karriere eilfertig von ihren jüdischen Frauen. Auch wurde oft auf "deutschblütige" Partner Druck ausgeübt, das Scheidungsgesuch einzureichen, dem dann schnell entsprochen wurde. "Arische" Frauen wiederum erlebten wegen ihrer Ehe mit jüdischen Männern von ihren "arischen" Abstammungsfamilien Beschimpfungen, weil sie ihnen "Blutschande" machten. Schließlich gab es auch privilegierte Mischehen, die wegen Prominenz oder Unverzichtbarkeit des "deutschblütigen" Partners unangetastet blieben.
"Bis dass der Tod uns scheide ..."
Mit den infamen Nürnberger Gesetzen brachten Deutsche großes Leid und in vielen Fällen die Zerstörung des Lebensglücks über ihresgleichen. Und doch ahnte kaum jemand, dass damit der Höhepunkt des nationalsozialistischen Rassenwahns noch längst nicht erreicht war. In der Folgezeit erhöhten unzählige schikanöse Bestimmungen den Leidensdruck, unnachahmlich beschrieben in den Tagebüchern Victor Klemperers, der über alle Phasen der Entrechtung und der nach dem Kriegsbeginn einsetzenden Verfolgung "Zeugnis ablegt bis zum letzten". Er überlebte sie dank seiner nichtjüdischen Ehefrau. Nicht alle hatten dieses Glück. Die jüdischen Partner in den bestehenden Ehen blieben unterschiedlich lange geschützt, wenn sie in irgendeiner Weise kriegswichtig waren (in Holland z. B. Diamantschleifer, ansonsten Facharbeiter in der Rüstung etc.) oder weil man Rücksicht auf die arischen Verwandten nahm. Aus diesem Grund verschob man auf der Wannseekonferenz 1942 die Einbeziehung der jüdischen Partner einer Mischehe in die Deportationen. 1943 verpflichtete man sie zu Zwangsarbeit, die sich kaum von KZ-Haft unterschied. Hingegen bedeutete der Tod des nichtjüdischen Partners oder Scheidung für den jüdischen Teil die sofortige Deportation.
Autor/in: Hans-Christian Täubrich, 21.09.2006