Wie Erinnerungsfetzen blitzen die ersten Bilder im Dunkel der Vorspanndaten auf. Männer werden aus einem Zug getrieben. Einem Priester wird der Hut vom Kopf geschlagen. Er befindet sich in der "Hölle auf Erden" im Konzentrationslager Dachau im Jahr 1941. Im so genannten Pfarrerblock hat die NS-Führung rund 2800 Priester vor allem aus den besetzten Ländern interniert, darunter auch den Abbé Henri Kremer aus Luxemburg. Seine Geschichte wird von Volker Schlöndorff in
Der neunte Tag erzählt.
Urlaub von der Hölle
Es ist eine außergewöhnliche Geschichte, sie handelt vom Urlaub von der Hölle. Eines Tages, im Februar 1942, darf Kremer unerwartet das Lager verlassen und für neun Tage in die Heimat zurückkehren. Nach Szenen äußerster Brutalität und Demütigung im KZ erlebt er auf der Rückfahrt erstmals wieder christliche Barmherzigkeit: Ein Junge teilt sein Butterbrot mit ihm. Doch zu Hause merkt er schnell, dass sich hinter der kurzen Freiheit eine Falle verbirgt. Gebhardt, ein junger SS-Untersturmbannführer und Gestapo-Chef in Luxemburg, will mit seiner Hilfe den passiven Widerstand des Bischofs von Luxemburg brechen, da dieser jede Kooperation mit den Nazis verweigert und die Domglocke gegen die Besatzer läuten lässt. Sollte Kremer fliehen, droht seinen Glaubensbrüdern im KZ der Tod und seiner Familie die "Sippenhaft".
Das spitzfindige Duell
Volker Schlöndorff macht das psychologische und theologische Duell zwischen dem SS-Mann und dem Priester zum Zentrum eines intensiven Kammerspiels. Es ist ein ungleiches Duell. Denn während Gebhardt vor Eifer glüht – er wollte selbst Priester werden, bevor er sich dem "Orden" Himmlers anschloss – und mit religiöser Überzeugung Kremer für die Kirchenpolitik der Nazis gewinnen möchte, steht dem Abbé das Entsetzen vor einer Welt des evidenten Bösen ins Gesicht geschrieben. August Diehl spielt den Gestapo-Offizier mit aalglatter Geschmeidigkeit, die erst ganz zum Schluss von ihm abfällt und sein wahres Gesicht entblößt. Ulrich Matthes verleiht Kremer eine große Präsenz auf der Leinwand, vor allem durch seine weit aufgerissenen Augen, die nicht fassen wollen, was sie sehen müssen.
Judas und das Heil
Kremers Situation hat selbstverständlich ein biblisches Vorbild, nämlich die Szene von Jesu Versuchung in der Wüste. Die Argumente Gebhardts klingen logisch, der Untersturmbannführer bringt sogar Judas ins Spiel und beschwört die Notwendigkeit des Verrats für das Heilsgeschehen. Auch Kremers Familie rät zur Flucht. Sein Bruder Roger, der als einflussreicher Industrieller mit den Nazis kollaboriert, will ihn sogar nach Paris entführen. Doch der Priester schirmt sich zunehmend gegen die Versuchung ab.
Albtraum aus Schuld
So, wie Ulrich Matthes die Figur anlegt, resultiert diese Haltung nicht aus steter Glaubenssicherheit, im Gegenteil. Im KZ hat Kremer erfahren, wie leicht der Mensch und auch er selbst der Versuchung erliegen kann. In einer Baracke hatte er ein tropfendes Wasserrohr entdeckt und das Wasser nicht mit einem besonders bedürftigen Mitgefangenen geteilt. Aus schierer Verzweiflung hatte dieser später den Tod im Stacheldrahtzaun gesucht. Seitdem plagen den Abbé Schuldgefühle. Volker Schlöndorff visualisiert sie in einer eindrücklichen Albtraumsequenz, in der er die Handlungsebenen Gegenwart und Erinnerung mit schneller Montage verschmilzt. Sonst lässt er das Geschehen von einer beinahe dokumentarischen, immer leicht bewegten und ihren Standpunkt häufig wechselnden Kamera beobachten.
Die Kirchen und die Nazis
Als Kremer endlich zum Bischof vorgelassen wird, versucht dieser, seine Haltung des passiven Widerstands zu begründen. Er weist darauf hin, dass der lautstarke Protest holländischer Bischöfe gegen die Verschleppung nichtarischer Christen deren Schicksal nur verschlimmert habe. Hier streift Schlöndorff die Diskussion über die Rolle der Kirchen im Dritten Reich, erwähnt wird auch das Reichskonkordat zwischen dem Vatikan und dem NS-Regime, das die Diktatur gegen gewisse Glaubensfreiheiten von katholischer Seite anerkannt hat, auch die bedeckte Position des Papstes, die Kremer kritisiert. Letztlich nehmen Drehbuch und Regie aber keine politische sondern eine existenzialistische Haltung ein. Der Bischof verweist Kremer für seine Entscheidung auf das Gewissen als keine primär religiöse Institution. In der Verantwortung gegenüber sich selbst muss der Priester sich auch zu den politischen Forderungen verhalten.
Rückkehr ins KZ
Kremer widersteht der Versuchung, kehrt nach Dachau zurück und riskiert so seinen Tod im KZ. Das alles geschieht ohne pathetische Töne und ohne heroischen Anspruch. In einer unauffälligen Szene zeigt Schlöndorff, wie befreiend es ist, wenn jemand zu seinen Prinzipien steht. Es ist die einzige heitere Szene des Films: eine Schneeballschlacht zwischen Kremer und seiner Schwester Marie. Plötzlich werden die Farben glasig wie bei einem Gemälde von Caspar David Friedrich; die meisten anderen Bilder sind in kaltes Winterlicht getaucht. Ein Schlager erklingt auf der Tonspur; sonst beschränkt sich die Filmmusik auf spröde Zitate aus Werken des seriellen Komponisten Alfred Schnittke, die vor allem die Gefühle der Unbehaustheit im KZ verstärken. Aber Kremers Rückkehr nach Dachau ist fast wie eine Abendmahls-Feier gefilmt. Ein kleiner Funken leuchtet in der Dunkelheit, als er unter den Gefangenen eine Wurst wie das Sakrament verteilt.
Das historische Vorbild
Der Abspann verweist auf Henri Kremers historisches Vorbild: den Luxemburger Abbé Jean Bernard. Dieser hatte das KZ Dachau überlebt und seine Erlebnisse in dem tagebuchartigen Bericht "Pfarrerblock 25487" der Nachwelt überliefert.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.11.2004