Kinofilmgeschichte
Kino-Film-Geschichte XXV: Opfer und Täter/innen – Kinder im Krieg
Der eine Junge ist verstört, verwildert, entwurzelt; er hat Hunger. Er irrt durch die Trümmerwüste am Nürnberger Hauptmarkt und wird von einem amerikanischen Soldaten beobachtet. Dieser legt ein Stück Brot aus und lockt den Jungen an wie ein Tier. Es ist ein jüdischer Junge. Im KZ wurde er von seiner Mutter getrennt. Er ist durch halb Europa gelaufen. Der Soldat kann ihn quasi "bändigen". Er hilft ihm bei der Suche nach der Mutter. Einmal sagt er: "Lasst uns zur Abwechslung das Leben eines Kindes wieder aufbauen, statt immer nur Brücken." Der Film heißt The Search, auf Deutsch: Die Gezeichneten. Fred Zinnemann hat ihn 1948 als amerikanisch-schweizerische Koproduktion gedreht.
Komm und siehe
Das Kind Hitler
Den anderen Jungen hat der Krieg zum Greis gemacht. Er ist zwölf Jahre alt, aber sein Gesicht ist schon zerfallen. Er hat Massenmord und Vergewaltigung erlebt. Eine Bombenattacke hat ihm das Gehör geraubt. An der Seite von russischen Partisanen/innen hat er gegen die deutsche Besatzung gekämpft. Ganz am Ende des Films steht er vor einer Fotografie des Mannes, der diesen Krieg auf dem Gewissen hat: Adolf Hitler. Er schießt auf das Foto. Und per Montage lässt Regisseur Elem Klimov den Hitler auf dem Bild mit jeder Salve jünger werden. Schließlich sitzt auch da ein Kind. Das ist zu sehen in dem Film Komm und siehe (UdSSR 1985). Klimov schlägt eine radikale Interpretationsvolte. Aus Kindern, so meint er, können Täter werden. Der Krieg, so zeigt er, macht aus Kindern Soldaten.
Verlust der Unschuld
Kinder im Krieg sind die schutzlosen und unschuldigen Opfer. Viele Filme erzählen davon. Kinder verlieren im Krieg aber die Unschuld. Auch davon erzählen Filme. Jeder Krieg bricht brutal in den Schutzraum ein, den Kindheit und Jugend bedeuten (sollten). Er führt immer zum Ende der Kindheit. Das Leben in einer seiner schlimmsten Herausforderungen erobert den Schutzraum. "Es ist sehr schwierig, im Krieg zu leben. Man wartet auf den Moment, in dem man stirbt." Das sagt ein zwölfjähriger Junge in Kinder im Krieg, einem Dokumentarfilm von Alan und Susan Raymond über den Bosnienkonflikt. Wenn der Tod so nah kommt, ist die Kindheit vorbei. Manchmal wartet man nicht nur darauf, den Tod zu erleiden, sondern wird selbst zum Täter: Ich habe getötet ist der Titel eines Films von Alice Schmid, in dem ehemalige Kindersoldaten aus Liberia ihre Geschichten erzählen.
Die Brücke
Kriegs-Spiele
Was passiert in den Köpfen von Kindern, wenn aus den Spielen um Macht und Überlegenheit, die in jede Kindheit gehören und die immer auch potenzielle Kampfhandlungen einüben, auf einmal Wirklichkeit wird? Auf plattem Unterhaltungsniveau stellt John Badhams War Games (USA 1983) diese Frage an die verbreiteten Computer-Spiele. Imaginiert wird die Situation, dass ein Teenager beim Spielen in den Rechner des Pentagon eindringt und beinahe den Nuklearschlag auslöst. War Games: Kinder spielen Krieg. Aber der Krieg verändert ihre Spiele. Davon handelt René Clements Verbotene Spiele (F 1952). Er erzählt von den Friedhofsspielen eines im Krieg verwaisten Mädchens und eines Jungen. Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie imitieren, was sie erleben. Das brauchen sie, um zu überleben. Eine harmlosere, autobiografisch gefärbte Variante des Stoffes hat John Boorman 1987 mit Hope and Glory – Der Krieg der Kinder (GB 1987) produziert.
Bittere Lektionen
Wenn die Kinder für die Strategen/innen in den Generalstäben "kriegsverwendungsfähig" geworden sind, enden die Spiele ganz und das Töten und Sterben beginnt. Davon handelt einer der berühmtesten Kriegsfilme überhaupt:
Im Westen nichts Neues von Lewis Milestone (USA 1930). Von den patriotischen Parolen ihrer Lehrer aufgestachelt, ziehen deutsche Gymnasiasten begeistert an die Front des Ersten Weltkriegs. Dort müssen sie neue Lektionen lernen, Lektionen über die schreckliche Wahrheit des Kriegs. Nicht anders geht es den deutschen Schülern in Bernhard Wickis
Die Brücke (BRD 1959). Sie bekommen den Befehl, eine Brücke gegen anrückende Amerikaner zu halten, befolgen den Befehl und sterben. Im Krieg wird die "Zukunft des Landes" als Parole immer wieder missbraucht und damit die reale Zukunft meist vorzeitig beendet. Auch Iwan stirbt, der russische Junge in Andrej Tarkowskijs
Iwans Kindheit (UdSSR 1962). Er arbeitet als Aufklärer für die Sowjetarmee. Die Sonnenblumenkerne und Maiskörner, mit denen er zu spielen scheint, sind tatsächlich ein Symbol für seine Beobachtungen der gegnerischen Front. Iwans Kindheit ist der Krieg; sie endet im Krieg und mit ihm sein Leben.
Zeit der trunkenen Pferde
An der Vernichtungsfront
Im Zweiten Weltkrieg gab es schließlich die Kinder, die an die Vernichtungsfront in die Konzentrationslager deportiert wurden. Rund 10.000 wurden immerhin gerettet, weil Großbritannien 1938/39 seine Grenzen für jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich öffnete. Mark Jonathan Harris' eindrucksvoller Dokumentarfilm
Kindertransport (USA 1999) erzählt diese Geschichte. Die meisten Geschichten von Kindern im Ausrottungskrieg der Nazis können aber nur tief traurig sein wie Louis Malles
Auf Wiedersehen, Kinder (F 1987) über den jüdischen Jungen Julien, der in einem katholischen Internat versteckt und doch von der Gestapo abgeholt wird, oder Andrzej Wajdas
Korczak (Polen/BRD/GB 1990) über den jüdischen Reformpädagogen Janusz Korczak, der mit den von ihm betreuten Kindern aus dem Warschauer Ghetto in die Gaskammern von Treblinka geht. Unter großen Opfern gerettet werden KZ-Kinder in Frank Beyers
Nackt unter Wölfen (DDR 1963) und Roberto Benignis
Das Leben ist schön (Italien 1998), einem Film für ein lachendes und ein weinendes Auge.
Vater der schrecklichen Dinge
Die Kriege enden nicht. Während wir im Kino sitzen, gibt es Krieg auf der Welt. So müssen Filme weiter vom Schicksal der Kinder an den Fronten berichten, darüber, wie Kinder verstümmelt werden, weil der Krieg als "Vater aller Dinge" stets grausame Vernichtungsmaschinen produziert wie in der UNICEF-Dokumentation
Landminen – Kinder als Zielscheibe. Und weiter darüber, wie die Zeit der Spiele endet und Kinder in die Rollen von Erwachsenen gezwungen werden, die sie kaum ausfüllen können, etwa in Bahman Ghobadis
Zeit der trunkenen Pferde (Iran 2000). Darin geht es um den Überlebenskampf iranischer Kinder nach dem Krieg ihres Landes gegen den Irak. Am Ende wird der Stacheldrahtverhau einer Grenze zum Hoffnungsbild. Das ist bezeichnend für die Stimmung in den wichtigen Filmen über die Kinder, die in Kriegen zu Opfern und zu Tätern/innen werden.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.05.2005