Hintergrund
Das Dilemma Hochbegabung
Besondere Fähigkeiten
Sie ist vier Jahre alt, bastelt an einem 500-Teile-Puzzle und hilft ihrem siebenjährigen Bruder bei den Hausaufgaben. Clarissa B. aus Berlin-Lichterfelde ist hochbegabt. Das Kind hat einen Intelligenzquotienten (IQ) von 139. Zwischen 90 und 110 IQ-Punkten sind Menschen normal begabt, ein IQ von 130 markiert die Grenze zur besonderen intellektuellen Befähigung. Auf etwa zwei Prozent weltweit schätzen Fachleute den Anteil an Jungen und Mädchen, deren Intelligenz weit über dem Durchschnitt liegt. Um gleich an dieser Stelle mit einem Vorurteil aufzuräumen: Hochbegabte sind keine "Wunderkinder", die sich ausschließlich auf einem Gebiet durch besondere Fähigkeiten hervorheben. Anschaulich demonstriert dies auch das Beispiel des Films
Vitus von Fredi M. Murer. Das herausragende musikalische Talent des Jungen ist lediglich ein Aspekt seiner außergewöhnlichen Intelligenz. Hochbegabte verfügen grundsätzlich über ein erhöhtes geistiges Potenzial: Sie denken schneller, analytischer, kreativer und komplexer als Normalbegabte.
Talent entdecken
Hochbegabung ist eine Veranlagung, ein Talent. Und wie alle Talente muss sie entdeckt und gefördert werden, um sich zu entfalten. Und damit fangen die Schwierigkeiten an. Die Eltern ahnen häufig nicht, dass sie einen überdurchschnittlich klugen Sprössling haben. Vielleicht empfinden sie ihr Kind als besonders wissbegierig, registrieren erfreut oder überrascht, dass es sehr früh sprechen oder lesen lernt. Aber häufig dauert es Jahre, bis die hohe Intelligenz per Test festgestellt wird; nicht selten wird sie gar nicht bemerkt – weder im Elternhaus noch im Kindergarten oder der Schule. Bei über 250.000 Menschen in Deutschland liegt der IQ über 130 – aber viele von ihnen wissen gar nichts davon. "Tatsächlich werden nur ein Drittel aller hochbegabten Kinder überhaupt erkannt", behauptet Jutta Billhardt, Gründerin und Vorstandsmitglied des bundesweiten Vereins Hochbegabtenförderung e.V.
Durchschnittsintelligenz im deutschen Bildungssystem
Einen wichtigen Grund dafür sieht Billhardt vor allem im deutschen Bildungssystem, das auf die "Durchschnittsintelligenz ausgerichtet ist". In Finnland, so berichtet sie, durchlaufen Kinder vor der Einschulung kognitive Intelligenztests, und werden, je nach intellektueller Kompetenz, in unterschiedlichen "Befähigungsgruppen" unterrichtet. In Deutschland absolvieren alle Schüler/innen einer Klasse unabhängig von ihrer Intelligenz den gleichen Lehrstoff. Dessen Pensum und Inhalte orientieren sich an der Normalbegabung. Intellektuelle Bedürfnisse, die über oder unter diesem Durchschnitt liegen, bleiben häufig auf der Strecke.
Kluge Kinder, schlechte Noten
Intellektuell ist Clarissa ihren Altersgenossen/innen weit voraus. Mit vier Jahren kann sie bereits im Zahlenraum bis 1.000 rechnen; wenn sie zur Schule geht, müsste sie jedoch wieder bei null anfangen. "Die Hauptschwierigkeit, mit dem sich alle Hochbegabten konfrontiert sehen", bestätigt Jutta Billhardt, "ist die permanente Unterforderung". Und die setzt oft eine ganze Problemkette in Gang. Nicht wenige Lehrer/innen fühlen sich dem Wissenshunger eines Kindes nicht gewachsen, das den Unterrichtsstoff in kürzester Zeit versteht. Im Klassenverband sind diese "Neunmalklugen" häufig Außenseiter/innen. Schnell stellt sich bei einem intellektuell nicht ausgelasteten Kind das Gefühl der Frustration, der Langeweile und der Lernunlust ein. So können aus überaus intelligenten Menschen schlechte Schülerinnen und Schüler werden. Jungen gehen häufig mit ihrer Unzufriedenheit nach außen, spielen den Klassenkasper, werden hyperaktiv oder verweigern offen die Leistung. Mädchen passen sich eher an und spielen die eigene Begabung herunter. Fast immer leidet bei einer verkannten Hochbegabung die Seele.
Potenziale fördern
Es geht jedoch auch anders. Hochbegabte Kinder müssen nicht zwangsläufig zum Problemfall werden – im Gegenteil. Sie müssen nur entsprechend ihrer Fähigkeiten gefördert werden. Nun wird die Förderung der intellektuellen Eliten spätestens seit PISA in Deutschland großgeschrieben; schließlich möchte man im internationalen Wettbewerb bestehen. Entsprechend bietet der innerschulische Bereich flexible Einschulungstermine, das Überspringen von Klassen, manchmal auch zusätzliche Nachmittagskurse oder jahrgangsübergreifenden Unterricht an. Darüber hinaus existieren bundesweit so genannte Schnellläuferklassen, die Schüler/innen in elfeinhalb statt in zwölf Jahren zum Abitur führen sollen. Jutta Billhardt ist das nicht genug: "Diese Angebote richten sich primär an begabte, aber nicht an hochbegabte Kinder". Letztere brauchen speziell geschultes Lehrpersonal, das sie mit anspruchsvollen und kreativen Angeboten und Lernaufgaben zum Lernen ermutigt. Spezielle Hochbegabten-Lehrzweige finden sich bundesweit allerdings erst in drei Schulen des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) in Braunschweig, Rostock und Königswinter, sowie im sächsischen Meißen. Das sind unbestritten erste wichtige Schritte hin zu einer adäquaten, individuellen Förderung: Idealerweise müsste diese jedoch, da sind sich Fachleute einig, bereits in Kindergarten und Vorschule beginnen und sich über die Grundschule in die höheren Schulformen fortsetzen. Denn trotz der zunehmenden Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema bleiben viele potenzielle Spitzentalente noch immer bis ins Erwachsenenalter unentdeckt. "Jeder Mensch hat ein Recht darauf, in seinen Fähigkeiten unterstützt zu werden", so Jutta Billhardt, "und gerade Hochbegabte können übergreifend weit in die Zukunft denken und der Gesellschaft wichtige, innovative Lösungswege anbieten."
Links und Literaturhinweise
www.hbf-ev.de
Hochbegabtenförderung e.V.
www.die-hochbegabung.de
Fachgruppe Hochbegabte der Sektion Wirtschaftspsychologie im Berufsverband deutscher Psychologen (BDP)
www.mensa.de
Mensa, ein weltweiter Verein für hochbegabte Menschen jeden Alters
www.kmk.org
Die Ständige Konferenz der Kulturminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
Billhardt, Jutta: Hochbegabte. Die verkannte Minderheit, Eibelstadt 1997
Stapf, Aiga: Hochbegabte Kinder. Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung, München 2003
Feger, Barbara/Tania M. Prado: Hochbegabung. Die normalste Sache der Welt, Primus Verlag 1998
Autor/in: Ula Brunner, 08.12.2006
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